Als der Verfassungsschutz-Chef die Seiten wechselte
n-tv
Es ist einer der größten Skandale der deutschen Nachkriegsgeschichte: 1954 setzt sich der Präsident des Verfassungsschutzes in die DDR ab. Nach eineinhalb Jahren kehrt Otto John zurück und behauptet, entführt worden zu sein. Doch was ist wirklich passiert? Eine Historikerin ist sich sicher: Moskau steckt hinter der Affäre.
Der "Spiegel" nennt es damals die "unglaublichste Nachricht seit Bestehen der Bundesrepublik". Bis heute ist das Ganze fast unvorstellbar. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz setzt sich in die DDR ab. Nach eineinhalb Jahren kommt er zurück in die Bundesrepublik. Er selbst sagt, er sei entführt worden. Aber da gibt es Zeugen, die das Gegenteil behaupten. Es geht um Intrigen und angebliche Trunksucht, um Verrat und Moral. Es geht um eine Nachkriegsgesellschaft, die sich mit Altnazis augenscheinlich leichter tat als mit deren Gegnern. Und um eine Behörde, die vor Extremisten schützen soll und dabei selbst immer wieder misstrauisch beäugt wird. Aber der Reihe nach.
Die Geschichte beginnt im Juli 1954, vor genau 70 Jahren. Der 45-jährige Otto John ist seit knapp drei Jahren Chef des neuen westdeutschen Inlandsgeheimdienstes in Köln. Zum zehnten Jahrestag des missglückten Attentats auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 reist er nach West-Berlin. Otto John selbst hat dem Widerstand im NS-Staat angehört, ebenso wie sein Bruder Hans John. Während Otto sich nach dem Fehlschlag 1944 nach England absetzen konnte, wurde Hans von den Nationalsozialisten umgebracht. An diesem zehnten Jahrestag des Hitler-Attentats zeigt sich Otto John beim Gedenkakt emotional und mitgenommen.
Wenige Stunden danach verschwindet er. Zwei Tage später, am 22. Juli 1954, bringt der Rundfunk der DDR eine Erklärung Johns: "Es bedarf einer demonstrativen Aktion, um alle Deutschen zum Einsatz für die Wiedervereinigung aufzurufen. Deshalb habe ich am Jahrestag des 20. Juli einen entschlossenen Schritt getan und die Verbindung mit den Deutschen im Osten aufgenommen." Das Bundeskabinett in Bonn geht trotzdem zunächst von einer Entführung aus. "Die Würdigung des vorliegenden Materials führte zu dem Schluss, dass sich Dr. John nicht freiwillig außerhalb des Gebietes der Bundesrepublik und Westberlins aufhält", heißt es im Bericht über eine Sondersitzung vom 23. Juli.