Wagner-Chef Prigoschin und ein Roman – Die Sicht des Teufels
Frankfurter Rundschau
Fiktion wird Realität: Guiliano da Empolis Buch „Der Magier im Kreml“ zeigt, wie es wirklich im Kreml zugeht, Prigoschin erklärt darin die Gründe für sein eigenes Ende.
Der Kreml hat viele Türme. Und zwischen ihnen oszilliert die Macht. Kaum jemand hat den Durchblick - schon seit Jahrhunderten nicht –, wem die Macht gewogen ist und wem nicht. Die Mauern des Kreml sind einfach zu hoch. Wer die Kräfteverhältnisse in Moskau verstehen will, sollte wissen, dass schon ein winziger Kontrollverlust ausreicht, um einen Riss im Gemäuer zu verursachen. Der Sturz von Jewgeni Progoschin – eines Teufels, der vom Himmel fiel –, ist keineswegs überraschend, wenn man sich in dem Roman von Guiliano da Empoli lesend verliert.
Seine vielfach und zu Recht gefeierte Meistererzählung „Der Magier im Kreml“, erschienen bei C.H. Beck im Frühjahr 2023, wurde vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine 2022 verfasst. Empoli folgt der Spur ins Zentrum der Macht des Kreml. Jeder, der in dem Gefüge bestehen wolle, müsse imstande sein, „diese Schwingungen mit der Genauigkeit eines Seismographen des Moskauer Instituts für Geophysik zu messen“, so Empoli. Das sei eine aufreibende Tätigkeit, die Übung erfordere, stets müsse man der Situation den Puls fühlen, auf der Hut vor dem Absturz sein.
Im Falle Prigoschins hat sich das erübrigt. Es gibt keinen Puls mehr zu fühlen, und schon nach seinem schnell abgeblasenen „Marsch auf Moskau“ war allen klar, dass die Zeit für ihn reif sein würde. Kurioserweise liefert Prigoschin in dem Roman selbst die passende Beschreibung für seinen Abgang. Im letzten Drittel des Buches tritt der Koch auf und überrascht den Erzähler mit seinen Lebensweisheiten. Und hier nennt er die Gründe, warum er das riskante Spiel betrieb, Putin herauszufordern, was zu seinem Tod führen sollte. Die jetzt, nach seinem Absturz aufkommenden Erklärungen seitens der medialen Einpeitscher in Moskau verblassen gegenüber der Überzeugungskraft des fiktionalen Textes.
Der Weg zu Prigoschins Bekenntnissen führt über Empolis Erzählung, die besonders Putins Aufstieg vom Funktionär zum Mittelpunkt des russischen Universums gilt. Der als „Zar“ bezeichnete Präsident wird als eiskalter Machtpolitiker mit ungeheurem Durchblick dargestellt. Vieles ist bekannt, und doch saugt man es erneut in sich auf. Die Kritik Putins am Westen, dem er eine Doppelmoral vorhält – die der Westen fraglos hat, was die russische Aggression in der Ukraine nicht besser macht.
Empoli schildert eindrücklich die Demütungen, die die Russen erlitten. Etwa, als Bill Clinton, damals US-Präsident, ins Lachen ausbricht, als der tapsige russische Amtsinhaber Boris Jelzin sturzbesoffen einen Auftritt in einer Live-Sendung hat. Man kehrt ein in die wilden 90er Jahre, die gekennzeichnet sind von einer ungeheuren Freiheit, von boomenden Kunst- und Literaturzeitschriften, man kann ja jetzt alles lesen, was früher verboten war. Doch auch wenn es Freiheit gibt, schlägt zugleich der Kapitalismus unbarmherzig zu. Die Inflation frisst alle Ersparnisse auf. Und die Oligarchen reißen sich das Volkseigentum unter die Nägel und kommen so zu unendlichem Reichtum. Dazu der ständig betrunkene Präsident. Jelzin, ein Mann, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann, wird vom Westen kaum ernstgenommen.