Unterlegene pflastern ihren Weg
Frankfurter Rundschau
Kanzlerin Merkel entwickelte in 16 Jahren eine Meisterschaft der informellen Durchsetzung von Macht. Und die wies so manchen Chauvinisten in seine Grenzen. Die Kolumne.
Als Bundeskanzler Gerhard Schröder am Wahlabend 2005 bräsig-selbstgerecht die Floskel von sich gab, man müsse die Kirche im Dorf lassen und schnoddrig ergänzte: „Glauben Sie wirklich, Sie können hier Bundeskanzlerin werden?“, war ich ganz seiner Meinung. Schröder hatte die Wahl verloren, aber die Vorstellung, dass Merkel sie gewonnen habe, fühlte sich seltsam unwirklich an. Der Eindruck legte sich auch in den nachfolgenden Monaten nicht. Das Merkel’sche Rollenmodell mutete fremd und ungelenk an. In Reden und vor der Kamera wirkte sie unbeholfen, ständig war man geneigt, ihre Sätze korrigieren oder umformulieren zu wollen. Auch nach 16 Jahren ihrer erstaunlichen Kanzlerschaft wird niemand so weit gehen, Angela Merkel rhetorische Könnerschaft nachzusagen oder ihr öffentliches Auftreten als politischen Stil zu klassifizieren. Eher zollt man ihr Anerkennung dafür, dass sie da war. „Sie kennen mich.“ Kaum jemand hat unter dem Mangel eines Stilempfindens in der gesamten politischen Klasse so sehr gelitten wie der kürzlich verstorbene Publizist und Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer. „In diesem Lande“, schrieb er, „ist ein ethischer Formalismus, der alle traditionelle Politik geprägt hat, zerstört.“More Related News