
Die wahre Wahrheit über die Wahrheit
n-tv
Die reale Welt ist böse. Deshalb haben wir den Sprachschutz vor dem Weltuntergang erfunden. Lasset uns nicht mehr Stiefvater, sondern Bonusvater sagen, nicht mehr Krieg, sondern vom K-Wort reden. Nie wieder K-Wort!
Neulich las ich in ein Buch, das, bevor es (mir) das Tor in eine fiktive Welt öffnen wollte, mich mit einer "Warnung" vor Ähnlichkeiten mit der Realität begrüßte. Zu lesen war, jedenfalls stand es so geschrieben: "Dieser Roman enthält explizite Darstellungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt, Rassismus, Sexismus und Misogynie, diskriminierende Sprache und Beschimpfungen, chronische und psychische Krankheiten und Konsum von Alkohol und Drogen. Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können. Detaillierte Angaben am Ende des Buches."
Als Folge dieser Warnung habe ich auf den Kauf des Buches verzichtet, da ich dem Versuch widerstehen wollte, an meine schreckliche Kindheit zu denken und retraumatisiert zu werden. Ich habe genug Stunden bei Psychologinnen verbracht und diesen über meinen Vater berichtet, zu dem ich ein (ab)geklärtes Verhältnis habe, spätestens seit er tot ist.
Die tragische Folge meiner Konsumverweigerung ist: Ich werde niemals erfahren, um welche "detaillierten Angaben am Ende des Buches" es sich handelt, ob dort die Whiskeys vorgestellt werden, die sich irgendeine saufende Romanfigur in die Birne schüttet, ob erklärt wird, woher die Schimpfwörter Arschloch und Fotze stammen und warum mit Muschis nicht nur Katzen gemeint sein können, warum das N-Wort und das Wort N-Wort-Küsse (zurecht) nicht mehr gesagt werden sollten, dass Gewalt strafbar ist und weshalb Frauen es nicht mögen, wenn man sie beschimpft und schlägt.