Wiesbadener Gaskraftwerk ohne Dampf
Frankfurter Rundschau
Die Energiekrise überschattet das Jubiläum von Infraserv Wiesbaden. Dort muss nun die alte Technik reaktiviert werden.
Gerade ein Jahr ist es her, dass Infraserv Wiesbaden (ISW) sein modernisiertes Gas- und Dampfturbinenkraftwerk in Betrieb genommen hat. 95 Millionen Euro hatte sich die Betreiberfirma des Industrieparks Kalle-Albert die neue Anlage kosten lassen und damit ihre bislang größte Investition in den Standort gestemmt. Bei der Eröffnung gab es Lob von allen Seiten. Das Kraftwerk mache den Industriepark der Landeshauptstadt „nahezu energieautark“, befand etwa Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne).
Nun ist es ausgerechnet die Energieversorgung, die den ISW-Verantwortlichen im Jahr des 25. Firmenbestehens die größten Sorgen bereitet. „Wir müssen anerkennen, dass sicher geglaubte Rahmenbedingungen aufbrechen können“, sagen die beiden Geschäftsleiter:innen Cornelia Lentge und Jörg Kreutzer mit Blick auf Lieferprobleme und Preissprünge bei Erdgas und Strom infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.
Ersatzlösungen zu finden, das sei nicht einfach. Strom könne man im Bedarfsfall wieder über das öffentliche Netz der Eswe-Versorgung importieren, erklärt ISW-Sprecher Thomas Deichmann. Problematisch sei vor allem die für viele Betriebe wichtige Dampfproduktion. Deshalb sind Infraserv-Mitarbeiter aktuell dabei, einen ausgemusterten Holzbrennkessel zu reaktivieren und eine Brennereinheit aus dem Altkraftwerk umzubauen, um vorübergehend wieder Öl und Klärgase einsetzen zu können. „Mit der Realisierung dieses Maßnahmenpakets sind wir derzeit zuversichtlich, auch über die Wintermonate hinweg ohne Versorgungseinschnitte im Industriepark zu kommen“, so Deichmann. Für die Zukunft wolle man zunehmend „grüne Gase“ nutzen. Das habe man bereits bei der Planung des neuen Gas- und Dampfturbinenkraftwerks berücksichtigt.
Mit 25 Jahren ist Infraserv Wiesbaden noch ein recht junges Unternehmen. Seine Geburtsstunde hing eng zusammen mit der Zerschlagung des Hoechst-Konzerns durch den damaligen Vorstandschef Jürgen Dormann. Seit 1997 sind die im Wiesbadener Industriepark ansässigen Firmen eigenständig – und Infraserv kümmert sich um Infrastruktur und Serviceleistungen wie Abwasserreinigung und Werksfeuerwehr, aber auch um IT-Dienstleistungen und die Ausbildung von aktuell rund 300 jungen Frauen und Männern in mehr als 20 Berufen.
„Der Chemiepark ist das industrielle Herz und ein wichtiger Arbeitgeber unserer Stadt“, betont Wiesbadens Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD). Begonnen hatte das schon Mitte des 19. Jahrhunderts im Jahr 1858 mit der Gründung des Chemieunternehmens Albert als „Landwirtschaftlich-chemische und Leimfabrik“ und der 1863 eröffneten Chemischen Fabrik Kalle. In den 1950er und 1960er Jahren habe es in Biebrich noch geheißen, „Kalle ernährt alle“, erinnert sich Ortsvorsteher Horst Klee (CDU).