Venezolanisches Öl plötzlich wieder interessant
DW
Jahrelang reagierte der Westen auf Menschenrechtsverletzungen in Venezuela mit Sanktionen - auch gegen die Ölindustrie. Nun erwägen die USA wegen des Ölboykotts gegen Russland eine Kehrtwende. Tobias Käufer aus Caracas.
Die Idee der USA, nach dem verhängten Ölboykott gegen Russland den Ausfall durch Lieferungen aus Venezuela zu kompensieren, bewegt in Caracas die Gemüter. Wenige Tage nach den Gesprächen einer hochrangigen US-Delegation mit der venezolanischen Regierungsvertretern reagieren Regierung und Opposition in Venezuela mit emotionalen Botschaften.
"Ich hoffe, sie verstehen, dass Geschäfte mit Maduro zu machen bedeutet, die Hände mit Blut zu beflecken", sagt Oppositionspolitikerin Delsa Solórzano enttäuscht in Richtung Washington. Venezuelas umstrittener Präsident Nicolas Maduro genießt derweil die politische Entwicklung in vollen Zügen. "Venezuela steht an der Spitze der Initiativen zur Stabilisierung des Öl-, Gas- und Energiemarktes", sagte Maduro zu Wochenbeginn in die Kameras des staatlichen venezolanischen Fernsehens.
Nur wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine scheint Venezuela zu einem der Gewinner der globalen Energiekrise werden zu können. Denn das ölreichste Land der Welt hat, was die USA und andere nun dringend aus anderen als den russischen Quellen brauchen: Erdöl. "Venezuela ist aufgrund seiner Ölvorkommen in einer Schlüsselstellung in Südamerika. Venezuela, das von den USA lange an den Rand gedrängt wurde, wird aus diesem Konflikt gestärkt hervorgehen und wirtschaftlich sowie politisch profitieren können. Dies sind die Paradoxien bestimmter Konflikte", sagt Politikwissenschaftler Jacques d'Adesky von der Universität Federal Fluminense in Rio de Janeiro im Gespräch mit der DW.
Maduro verspricht nun eine Steigerung der Ölproduktion auf bis zu zwei Millionen Barrel täglich. Das entspräche nahezu einer Verdreifachung der aktuellen Produktionsmenge von 700.000 Barrel. Eine Analyse der Beraterfirma IHS Markit schätzte die tatsächliche Fördermenge 2020 auf nur noch 200.000 Barrel. Angesichts der jüngsten Ölpreisexplosion wäre die deutliche Steigerung der Erdölfördermenge ein großer Einnahmezuwachs für das krisengeschüttelte Land, aus dem in den letzten Jahren mehr als sechs Millionen Menschen wegen der katastrophalen Versorgungs- und Sicherheitslage sowie der staatlichen Repression geflohen sind.
Allerdings gilt die venezolanische Erdölindustrie als marode, unzählige Fachleute der Branche haben das Land verlassen. Hinzu kommt: Wegen seiner physischen Eigenschaften kann das venezolanische Öl nur in vergleichsweise wenigen Raffinerien verarbeitet werden. Einige davon stehen in den USA. Venezuela könne die russischen Öllieferungen gar nicht ersetzen, weil es nicht über die entsprechenden Produktionskapazitäten verfüge, sagt dagegen Venezuela-Kenner Geoff Ramsey vom Washington Office on Latin America der regierungskritischen Zeitung El Nacional. Zudem hätten die USA klar gemacht, dass es ohne Fortschritte in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte keine Sanktionen gegen Venezuela aufheben würde.