Orwell und McEwan über „Kunst und Politik“ – Rom brennt, er geigt fantastisch
Frankfurter Rundschau
„Der Bauch des Wals“: George Orwell und Ian McEwan beschäftigen sich mit der Frage, ob Literatur politisch sein soll – oder einfach gute Literatur.
Es kann ein alptraumhafter Gedanke sein, wie der biblische Jona von einem Wal verschluckt zu werden – in der Realität würde es ein Mensch sowieso nicht überleben. Der Brite George Orwell – dessen berühmtester Roman, „1984“, aus Anlass des Sieges von Donald Trump stark nachgefragt war, aus Anlass des russischen Angriffs stark nachgefragt war, weitere Anlässe werden gewiss folgen –, Orwell aber sah den Schriftstellerkollegen Henry Miller in seinem 1940 erschienenen Essay „Im Innern des Wals“ behaglich in einem Wal-Bauch wohnen, abgeschirmt von allen lästigen oder auch schrecklichen Weltereignissen. Er nahm es ihm nicht übel. Er hielt gerade deswegen dessen Roman „Wendekreis des Krebses“ für gelungen.
„Miller schreibt über den Mann auf der Straße“, so Orwell fünf Jahre nach Erscheinen von Millers Roman (die Frau auf der Straße interessierte die Herren Schriftsteller damals eher gar nicht, aber das wäre ein anderes Thema). Er sei die Stimme „des Passagiers dritter Klasse“ und er schreibe von diesen armen Menschen „ohne zu faseln, ohne zu moralisieren“. Orwell spricht in dem Zusammenhang auch von Millers „Überzeugung, dass es doch ganz gleichgültig sei“ – und meint mit „es“ so ziemlich alles, was außerhalb des Wals geschieht.
Ende 2021 hielt der britische Autor Ian McEwan eine „Orwell Memorial Lecture“ unter dem Titel „Politik und Imagination: Überlegungen zu George Orwells ,Im Innern des Wals’“. McEwan beginnt seinen Vortrag mit dem 23. Dezember 1936, als Orwell Miller in dessen Wohnung in Paris besucht. Miller schenkt Orwell, der auf dem Weg nach Spanien ist, um an der Seite der Kommunisten zu kämpfen, an diesem Tag eine Cordjacke, mit der Bemerkung, er „könne die warme Jacke im spanischen Winter sicher gebrauchen; allerdings sei sie nicht kugelsicher.“ Miller, der Bohemien, der es lächerlich findet, sich irgendwie zu engagieren, der es sowieso und immer ablehnt, sich ernsthaft und gar mit seinem Leben für eine Sache einzusetzen, verschenkt immerhin eine Jacke. Das größere Geschenk, so kann man McEwan verstehen, kam allerdings von Orwell, als er Millers „Wendekreis des Krebses“ positiv, ja enthusiastisch besprach, dabei völlig hintanstellend, dass ihn politisch und in der moralischen Haltung von dem US-amerikanischen Kollegen Welten trennten.
Der Diogenes-Verlag, der die Essays von Orwell und McEwan in diesen aufgeregten, von rechts und links der Zensur zugeneigten Tagen herausgebracht hat mit dem Untertitel „Zwei Essays über Kunst und Politik“, verweist mit diesem Titel auf den Kern beider Texte: Kann große Kunst auch entstehen, wenn der Schöpfer, die Schöpferin sich abwendet von der Welt, wenn sie geigen, „während Rom brennt“, wie es Orwell über Miller schreibt.
Er schreibt aber auch: „Gute Romane stammen nicht aus der Feder von Gesinnungsschnüfflern oder Leuten, die fortwährend in der Angst leben, nicht linientreu zu sein“ – und sicher meint er seine eigenen Genossen mit. Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts glaubt Orwell, dass die Entwicklung hinausläuft „auf eine Zerstörung des Liberalismus“. McEwan sieht diese Gefahr heute wieder, er sieht sie sehr deutlich: „Weltweit wird die freie Meinungsäußerung zu einem schwindenden Privileg.“ In einer kleinen Aufzählung landet er bei der „gesellschaftlichen Ächtung“ vonseiten mancher Institutionen des angloamerikanischen Westens, „die fürchten, ansonsten ihrem Ruf zu schaden“.