Louise Glück: „Winterrezepte aus dem Kollektiv“ – Du und ich tun solche Dinge nicht
Frankfurter Rundschau
„Winterrezepte aus dem Kollektiv“, ein neuer Gedichtband der amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück.
Das Englisch ist so einfach! Ich verstehe alles. Nein. Ganz falsch. Ich kenne jedes Wort. Kein einziges muss ich nachschlagen. Aber verstehe ich es? Ja, doch. Jedes Wort verstehe ich, aber dennoch bleibt mir „alles“ ein Rätsel. Seit Kindertagen nehmen wir die Dinge auseinander, um sie zu verstehen. Hier liegt alles offen zutage. Kein einziges unbekanntes Wort. Dennoch alles ein Geheimnis. Die verführerische Dunkelheit ihrer Gedichte zaubert Louise Glück aus nichts als Transparenz.
Das erste dieser neuesten Sammlung der US-amerikanischen Literaturnobelpreisträgerin von 2020 heißt – einfacher geht nicht – „Poem“ (Gedicht). Es beginnt, als zitiere sie eine Jugendstilillustration zu „Brüderchen und Schwesterchen“: „Day and night come / hand in hand like a boy and a girl“ (Tag und Nacht kommen / Hand in Hand wie ein Junge und ein Mädchen). Aber was passiert dann? Mit einem Male glaube ich, die beiden durchs Leben stürzen zu sehen, einem Tod entgegen, der irgendwo außerhalb des Gedichtes eintreten wird, oder tat er es irgendwo im Gedicht – von mir unbemerkt? Sehen die beiden hinunterstürzend sich selbst, oder sind der Junge und das Mädchen nicht das „Wir“, von dem die Autorin spricht? Ganz sicher nicht. Im Gedicht heißt es ganz klar: „Sie ersteigen den hohen eisbedeckten Berg, / fliegen dann fort. Doch du und ich / tun solche Dinge nicht -“.
Dennoch: Ich kann die einen zwei von den anderen zwei nicht trennen. Sie scheinen erst Traum-, dann Spiegelbilder. Ich weiß nicht, wer sie sind. Ich weiß allerdings, dass, was in meiner unbeholfenen Zusammenfassung so unsicher, ja verunsichernd, klingt, es im Gedicht nicht ist. Im Gegenteil. Das „Wir“ des Gedichts mag stürzen, wir Leserinnen und Leser aber – so kommt es mir vor – fühlen uns aufgehoben in der Bewegung dieser Verse.