
Zum Tod der Fotografin Evelyn Richter: Schmerzhaft zärtlich
Frankfurter Rundschau
Sie prägte Generationen von Fotoschaffenden: Ein Nachruf auf die ostdeutsche Künstlerin Evelyn Richter.
Ein Foto ist keine Meinung. Oder doch? Für Evelyn Richter hieß fotografieren immer, Menschen, Dinge und Zusammenhänge zu sehen. Das Foto belegt schließlich, dass man dagewesen ist, also gibt es nicht bloß das Abziehbild wieder, sondern auch eine Meinung. Diese Meinung prägt etwa das Porträt der verlebten Majakowski-Muse Lilja Brik, aufgenommen in Moskau 1978, auch die Bilder der müden Schichtarbeiter in der Leipziger Straßenbahn. Die Erschöpfung der Männer ist nicht zu übersehen. Aber dass einer im Schlaf die schwieligen Hände wie Werkzeuge nach der Arbeit abgelegt hat, sagt uns erst die Fotografin. Und eine Meinung enthalten auch die Porträts der Arbeiterinnen an ihren uralten Maschinen in einer sächsischen Textilfabrik.
Das Albertinum in Dresden, wo die Fotografin zuletzt in einem Seniorenheim lebte, breitete im Januar 2020, zum 90. Geburtstag, ihr Œuvre aus. Nun ruht die Leica aus: Evelyn Richter starb am Wochenende mit 91 Jahren, wie das Museum der Bildenden Künste Leipzig mitteilte. Voriges Jahr, mitten in den Corona-Lockdowns, bekam sie als allerstere Trägerin den gerade erst installierten Düsseldorfer Bernd-und-Hilla-Becher-Foto-Preis.
Fotos von Richter zeigen eine Sicht, die merkwürdig verstört. Es ist darin etwas schwer Verdauliches, irgendwie anarchisch Melancholisches. Es ist die Art, wie die Kamera die Linien der Gesichter, die Mimik, die Gestik nachzeichnet: schmerzhaft zärtlich, gnadenlos. Wie die Frau, die sie vor Mattheuers anti-optimistischem Bild „Die Ausgezeichnete“ in der neunten DDR-Kunstausstellung fotografiert hat. Deren Gesicht ist ebenso müde, abgearbeitet und illusionslos wie das der Gemalten mit dem roten Tulpenstrauß.