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Zionismus: Der Traum vom Gemeinwesen ohne Staat
Frankfurter Rundschau
Zwei Bücher, die sich mit dem Zionismus als linksradikalem und vor allem auch anarchistischem Projekt befassen, machen deutlich: Die Kolonialismus-Debatte greift hier viel zu kurz
Gegenwärtig, in einer Zeit, in der legitime Kritik an israelischem Regierungshandeln hier und israelbezogener Antisemitismus dort beinahe ununterscheidbar geworden sind, ist es unerlässlich, daran zu erinnern, dass der Zionismus eben auch eine progressive Bewegung war; eine Bewegung, die nicht wenige linke, ja geradezu linksradikale Strömungen aufwies.
Ein Topos der gegenwärtigen Zionismuskritik ist der Vorwurf des Kolonialismus. Zu wenig unterscheidet diese Kritik zwischen Kolonialismus und Kolonisation – ein Umstand, der zumal die ersten jüdischen Siedlungen in Palästina an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrifft. Ging es doch diesen jungen Leuten, die als „Zweite Aliyah“ zwischen 1904 und 1914 das von judenfeindlichen Pogromen heimgesuchte Zarenreich verließen, gewiss nicht darum, erwirtschaftete Reichtümer nach Russland zu reimportieren. Der Zionismus – unbestreitbar eine Kolonisationsbewegung – war schon alleine deshalb kein Kolonialismus, weil er kein Mutterland aufzuweisen hatte.
Zudem, und darauf macht eine bisher zu wenig beachtete Neuerscheinung aufmerksam, war der frühe Zionismus – jedenfalls in und aus Russland – eine nicht nur linksradikale, sondern mehr noch eine anarchistische Bewegung. Eine anarchistische Bewegung, der es zwar nicht darauf ankam, eine gewaltsame Revolution herbeizuführen, wohl aber darauf, ein staatsfreies, auf kommunistischer Grundlage beruhendes Gemeinwesen zu schaffen: einen Verbund von Genossenschaften und kleineren Siedlungen, deren Einwohner und Einwohnerinnen kein Privateigentum kannten und genau deshalb solidarisch wirtschafteten.
Entsprechend weist der Historiker James Horrox in seiner Studie „Gelebte Revolution“ überzeugend nach, in welchem Ausmaß die frühe Kibbuzbewegung eben nicht von Marx, Engels oder Lenin geprägt war, sondern von zwei Theoretikern, die heute kaum noch bekannt sind: von Peter Kropotkin und Gustav Landauer.
Peter Kropotkin (1862-1921) publizierte 1902 sein bahnbrechendes Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Gustav Landauer, 1870 geboren und 1919 von Mitgliedern eines rechtsradikalen Freikorps ermordet, trat, Proudhon und Bakunin verpflichtet, 1893 auf dem Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress der II. Internationale in Zürich für einen „anarchistischen Sozialismus“ ein. Als Folge dieses Auftritts wurde seine Gruppierung ob ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Staates aus der II. Internationale ausgeschlossen.