
"Zeitzuflucht": Booker Prize für einen prophetischen Roman
DW
Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov hat für seinen Roman "Zeitzuflucht" den Booker Prize bekommen. Das Buch passt erschreckend gut in die Zeit von Moskaus Krieg gegen die Ukraine.
"Wir neigen dazu, in der Vergangenheit zu leben, den Kopf in den Sand zu stecken und der Gegenwart zu entfliehen. Manchmal denken wir sogar, die Vergangenheit sei unsere Zukunft", sagt Georgi Gospodinov im Gespräch mit der DW.
In seinem Roman "Zeitzuflucht", der im März 2022 auf Deutsch erschienen ist und für den er nun (23.05.2023) den prestigeträchtigen britischen Booker-Literaturpreis bekam, zeichnet der bulgarische Autor eine Welt, in der die Menschen Zuflucht in der Vergangenheit suchen. Was am Anfang als Therapie für Alzheimer- und Demenzkranke gedacht war, wird zu einer Dystopie: In jedem europäischen Land wird per Referendum ein Jahrzehnt gewählt, in das alle zurückwollen. Am Ende der Geschichte führt dies zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs.
Für Gospodinov ist das Buch eine Warnung, die mit Moskaus Krieg gegen die Ukraine nun zur Realität geworden ist. "Der Krieg gegen die Ukraine ist ein Referendum über Russlands Vergangenheit", so der Autor. "Laut Putins Plan soll zuerst der Status Quo vor den NATO-Osterweiterungen ab 1997 wiederhergestellt werden. Dann die Situation von 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und letztendlich wird die Zeit zum 1. September 1939 zurückgedreht, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs."
Der Schriftsteller sieht viele Parallelen zu 1939. "Putin ging in den Ukraine-Krieg mit der Behauptung, die Ukraine existiere einfach nicht - das erinnert an die Art und Weise, wie Stalin am 17. September 1939 in Polen einmarschiert ist. Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 um 4:47 Uhr morgens, der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ein paar Minuten später."
Gospodinov hat seinen Roman mit einem Leitsatz versehen: "Und als sie zurückblickten, sahen sie ihre Zukunft". Der Schriftsteller glaubt, dass der Nationalismus - und damit die Wiederholung der Vergangenheit - heute die größte Bedrohung für Europa ist: "An sich sollte Europa gegen dieses Virus resistent sein, und doch hat es sich in den letzten Jahren immer mehr ausgebreitet", so Gospodinov.