
Yasmina Reza „Serge“: Wer weiß schon, wie die Dinge liegen
Frankfurter Rundschau
Yasmina Reza erzählt in ihrem Roman „Serge“ von der Vergeblichkeit des Gedenkens und den Abgründen der Gegenwart.
Während die Figuren reden, lauter werden und herumschreien und das Publikum kichert, lacht und sich erschreckt, tun sich in den Theaterstücken und in den Romanen von Yasmina Reza Abgründe auf. Es sind die Abgründe, in denen sich vielleicht Wahrheiten zeigen, jedenfalls platzt Unaussprechliches hervor, das – zivilisatorisch betrachtet zu Recht – normalerweise verborgen bleibt. Die Wahrheiten und das Unaussprechliche (sei es unaussprechlich beleidigend, deprimierend oder dumm) haben in Rezas Konstruktionen genug damit zu tun, sich an der Gegenwart abzuarbeiten. Die Gegenwart, das eigene Erleben und gerade noch die persönliche Erinnerung sind es, aus dem sich Rezas Dialoge und Geschichten speisen. Dabei geht es nicht so sehr um Egoismus, sondern um die einzige Sphäre, die dem Individuum wirklich fassbar zur Verfügung steht. Die Macht des Jetzt, sie ist gewaltig, aber gerade in der Literatur wird sie oft unterschätzt. Nicht von Yasmina Reza.
So ist auch „Serge“ ein zutiefst gegenwärtiger Roman, in dem die Schriftstellerin gleichwohl die Vergangenheit wie nie zuvor zum Thema macht, den Holocaust, die Erinnerung an den Holocaust, die Vergeblichkeit der Erinnerung. Reza selbst, 1959 in Paris als Tochter jüdischer Eltern geboren, der Vater aus dem Iran, die Mutter aus Ungarn, hat sich selbst stets als weitgehend erinnerungs- und wurzellos bezeichnet, und, ganz ohne Bitterkeit, als allein in der französischen Sprache beheimatet. Der bildungsbürgerliche Hintergrund spielte schon in autobiografischen Texten (etwa im Band „Nirgendwo“) eine Rolle, der jüdische praktisch nicht.
Und auch die drei Kinder des Ehepaars Popper sind mit Schach, aber ohne jüdische Tradition und Familiengeschichten aufgewachsen. Der Vater pflegt zumindest eine pathetische (der Sohn: „schwulstige“) Leidenschaft für den Staat Israel. „Wer Israel nicht verehrte – die einzige, wirklich einzige Demokratie in der Region! –, war antisemitisch. Punkt. Hört nicht auf eure Mutter, sagte er, die ist Antisemitin. ,Sie ist doch Jüdin‘, wagten wir einzuwenden. ,Das sind die Schlimmsten! Die schlimmsten Antisemiten sind selber Juden. Das müsst ihr lernen.‘“ Die Mutter hingegen, deren Familie ermordet worden ist, „hatte auf keinen Fall ein Glied in einer Kette sein wollen“ und „einen wenig in unsere Zeit passenden Reflex: Um nichts in der Welt wollte sie Opfer sein“. Der Erzähler, der jüngste Sohn Jean, ist den Eltern dankbar dafür. „Man kann gar nicht genug die Leichtigkeit rühmen, die das Fehlen eines Vermächtnisses uns beschert.“
Jetzt aber, nach dem Tod auch der Mutter (im Dezember 2018 offenbar), will die erwachsene Enkeltochter nach Auschwitz fahren. „Zum Grab unserer ungarischen Verwandten“, stellt Jean fest, „deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort ,Gedenken‘ berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen. So verstand ich jedenfalls das fieberhafte Engagement meiner Nichte Joséphine.“ Jean, seine ältere Schwester Nana und der Älteste, Serge, der Vater von Joséphine, begleiten sie. Im Gepäck Primo Levi und das Bewusstsein, den Eltern nicht allzu viele Fragen gestellt zu haben. „Im Grunde war es uns schnurz“, stellt Serge fest.
Die Reise – eher lässig das Zentrum des auf 200 Seiten staunenswert verzweigten Romans – ist eine Posse und Erschütterung. Reza als Meisterin der dialogischen und psychologischen Ökonomie skizziert das mit der ihr eigenen Eleganz und in einer Unmittelbarkeit, Ambivalenz und Vielfalt, die sich jeder Vereinfachung entgegenstellt. Die adrette Stadt – „der Bürgermeister hat sich wohl gesagt, du musst alles mit Blüten schmücken, Alter, deine Stadt heißt Auschwitz, du musst schmücken, pflanzen, schneiden, und die Mauern musst du reinigen und frisch streichen, in Farbe!“ –, der Gedenkstättentourismus, der Tod (erst in Birkenau dann „ohne Bemäntelung“), die Parolen. „,Vergesst nicht‘. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos. Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“ Die Gegenwart drängt sich auch hier dazwischen, jetzt etwa durch eine E-Mail, die Serge verärgert. „Findest du es normal, mir so was zu schicken, während ich in Auschwitz bin?“