
Wirken die EU-Sanktionen gegen Russland?
DW
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ist im DW-Interview überzeugt, dass Russland früher oder später in die Knie geht. Die Schlagkraft der Sanktionen ist umstritten. Bernd Riegert aus Brüssel.
Seit dem erneuten russischen Überfall auf die Ukraine Ende Februar hat die Europäische Union in sechs Sanktions-Paketen wirtschaftlichen Austausch mit dem einstigen Handelspartner fast völlig abgestellt. Es gibt Ausnahmen: Gas, Öl, das durch Pipelines angeliefert wird, Lebensmittel, Getreide und bestimmte Düngemittel sind nicht mit Sanktionen belegt. Der Rat der Europäischen Union, also die Vertretung der 27 Mitgliedsländer, gibt an, dass Sanktionen gegen 1212 einzelne Personen und 108 Firmen und andere Körperschaften in Kraft sind. Zu den Personen zählen der russische Präsident, sein Außenminister und etliche reiche Oligarchen aus dem Dunstkreis Putins.
Die Hälfte der Reserven der Russischen Zentralbank wurden eingefroren, russische Banken vom internationalen Zahlungssystem SWIFT abgekoppelt. Exporte westlicher Technologie, Luftfahrttechnik, Elektronik und Luxuswaren sind untersagt. Mehr als 1000 westliche Firmen haben sich aus Russland zurückgezogen. Neben der EU haben auch die USA, Kanada, Japan, die Schweiz und Großbritannien Sanktionen gegen Russland erlassen. Das Rechechenetzwerk Correctiv zählt in seinem "Sanktions-Monitor" 6825 einzelne Maßnahmen der Staatengemeinschaft seit Beginn des russischen Angriffskrieges. So viele Sanktionen gegen ein einzelnes Land gab es in der Geschichte noch nie.
Die Frage ist jetzt: Wie wirken diese Sanktionen und führen sie zu einer Änderung des Kriegskurses im Kreml? Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, sagte in einem DW-Interview am Freitag, dass die Sanktionen die russische Wirtschaft hart treffen. "Die russische Wirtschaftsleistung schrumpft um 10 Prozent. Sie werden die schlimmste Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erleiden." Die EU sei noch abhängig von russischen Energielieferungen, räumte Josep Borrell ein, aber das werde sich in einigen Monaten ändern. "Wir kaufen weiter Gas, aber wir haben die Importe bereits um die Hälfte reduziert. Wir können keine Wunder wirken." Mit den Erlösen aus dem Gasverkauf könnten die Russen nichts mehr im Westen, zum Beispiel Technologie für ihre Panzer, einkaufen. "Sie haben Geld, bekommen aber nichts dafür."
Mittlerweile liegt eine Reihe von Studien renommierter Universitäten und Wirtschaftsforschungsinstitute zu möglichen Auswirkungen der Sanktionen und ihren Wirkungen in Russland und den sanktionierenden Ländern im Westen vor. Alle gehen von einem einschneidenden Rückgang der Wirtschaftsleistung Russlands in diesem Jahr aus. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzte das Minus auf 15 Prozent, die EU auf 10. Die Wirtschaftsforscherin Maria Shagina aus Zürich geht eher von sechs Prozent Einbußen aus. Sie arbeitet am Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS).
"Russland verkauft weiter Öl und Gas zu Rekordpreisen und füllt so seine Kriegskasse, die es bereits vor dem Krieg hatte. Deshalb haben wird diese einmalige Situation, dass es so scheint, als sei Russland von Sanktionen nicht sonderlich getroffen", analysiert Maria Shagina im Gespräch mit der DW. "Auf der mikroökonomischen Ebene sieht das aber ganz anders aus, besonders in der Autoindustrie und der Luftfahrt. Da sind Rückgänge von 80 bis 90 Prozent zu sehen." Russland müsse sein Wirtschaftsmodell jetzt umstellen, weil es keinen Zugang mehr zu westlichen Finanzquellen und Märkten habe, sagte die Forscherin vom IISS. "Russland wird eine Rückabwicklung der Industrialisierung erleben. Wie schnell Russland das bewältigen kann und sich zum Beispiel mit China oder Indien zusammentun kann, das ist die große Frage."