Vielleicht ist der andere ja doch kein Idiot
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Moralisierung und Polemik heizen den öffentlichen Diskurs auf und teilen die Gesellschaft in ein Freund-Feind-Schema. Dagegen helfen könnte etwas mehr Taktgefühl, meint der Philosoph Martin Scherer.
Das Schlagwort der verrohten Gesellschaft macht die Runde - und es fällt schwer, kraftvoll dagegen zu argumentieren. Im politischen Diskurs darf kein verbales Extrem fehlen, da werden Menschen, die sich auf die Straße kleben, zu "Klimaterroristen" und wer regenerative Energien befürwortet, ist Teil der "Heizungsstasi". Die Netzwerke der digitalen Welt dienen der andauernden Zuspitzung als ideale Echokammern. Wenn es um Stilfragen geht, haben zuletzt selbst Regierungsparteien durch öffentliche Selbstzerfleischung kein besonders gutes Vorbild abgegeben. Wer will da ernsthaft der These widersprechen, dass unseren alltäglichen Umgangsformen ein Reset ganz guttun würde?
Wie der gelingen kann trotz verhärteter Fronten, erklärt der Münchner Philosoph Martin Scherer in seinem Essay "Takt": mit Höflichkeit und Distanz. Scherer teilt die Gesellschaft nicht in Gut und Böse, falsch und richtig. Gleich zu Beginn wendet er sich nicht an diejenigen, die allzu laut und ungefiltert kommentieren, sondern schreibt: "Es wird unentwegt moralisiert". Man denkt unvermittelt an den Vorwurf an die Grünen, eine Verbotspartei zu sein. Was überraschend viele Menschen dazu veranlasste, neue Gas- und Ölheizungen zu bestellen. Bilden Moral und Polemik einen ewigen Kreislauf?
"Das hat sicher so einen Wechseleffekt", sagt Scherer im Gespräch mit ntv.de. "In dem Moment, wo es scheinbar Tabus und Sprachregelungen gibt, wächst als Reaktion die Lust am Übertritt und fast schon archaischen Drang zur Provokation." Eine Trotzreaktion auf die Moral, die häufig sogar darin mündet, wissenschaftlich belegte Erkenntnisse infrage zu stellen, etwa mit Blick auf den Klimawandel.