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Versuchen wir, die Kannibalen zu verstehen
Die Welt
Luca Guadagnino hat mit „Bones and All“ einen Horrorfilm gedreht, der eigentlich ein Liebesfilm ist. Er geht davon aus, dass Menschenfresser unter uns sind. Und fragt sich, nach welchem Ehrenkodex die eigentlich leben.
Ist es heutzutage noch akzeptabel, dass ein Vater seine 17-jährige Tochter in ihrem Zimmer einschließt, weil er nicht will, dass sie die Nacht bei einigen Klassenkameradinnen verbringt? Man ist geneigt, die Frage zu verneinen, und deshalb auf der Seite von Maren, die aus dem Fenster klettert und sich auf der Pyjamaparty vergnügt – bis, ja, bis Maren den Finger einer Freundin in den Mund nimmt und blitzschnell abnagt, bis auf den Knochen.
„Bones and All“ ist ein Film über Kannibalen unter uns. Sehen aus wie wir, benehmen sich wie wir – bis die Gier nach Menschenfleisch siegt und sie flüchten müssen wie Maren, die dann schleunigst ihre Siebensachen packt und weit fortfährt, im nächsten Greyhound. Wir befinden uns im Mittleren Westen der USA, späte Achtziger, voll trüber Diners und verrammelter Hütten, ein Skelett von Land, in dem ein menschliches Skelett hie und da wenig Aufsehen erregt.