UN-Experte sieht Systemversagen bei Polizeigewalt in Deutschland
ProSieben
Bei deutschen Polizeibehörden gebe es ein Problem mit dem unverhältnismäßigen Einsatz von Gewalt, urteilt ein Menschenrechtsexperte der Vereinten Nationen. Die Überwachung der Polizei funktioniere nicht.
In Deutschland gibt es beim Umgang mit Polizeigewalt nach Auffassung eines UN-Menschenrechtsexperten "Systemversagen". Dieses Fazit zieht der bisherige UN-Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Nils Melzer, aus einem Austausch mit der Bundesregierung, wie er der Deutschen Presse-Agentur sagt. Zuvor hatte "Die Welt" darüber berichtet.
Die Bundesregierung widerspricht der Einschätzung. "Ein Muster übermäßiger Anwendung von Gewalt durch Polizeibeamte gegenüber Personen oder gegenüber Demonstranten gibt es in Deutschland nicht", sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Nachfrage. Sofern im Einzelfall Hinweise auf rechtswidrige oder unverhältnismäßige Handlungen von Einsatzkräften vorlägen, werde diesen konsequent nachgegangen. Präventiv würden Maßnahmen "zur Stärkung der demokratischen Resilienz und zur Vermeidung von übermäßiger Polizeigewalt" innerhalb der Polizeien des Bundes ergriffen.
Melzer war im Sommer 2021 wegen mehrerer Videos, die offenbar Polizeigewalt bei Berliner Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen zeigten, aufgeschreckt worden. Er äußerte Sorge darüber und bat die Bundesregierung um eine Stellungnahme. "Ich fand die Reaktion der Regierung bedenklich", sagte er jetzt. Nach Auffassung der Bundesregierung sei es verhältnismäßig gewesen, dass Polizisten beispielsweise einen nicht aggressiven Demonstranten vom Fahrrad stießen und auf den Boden warfen. "Die Wahrnehmung der Behörden, was verhältnismäßig ist, ist verzerrt", sagte Melzer.
Er habe die Bundesregierung um eine Statistik gebeten, wie viele Polizisten wegen unverhältnismäßiger Gewalt belangt werden, sagte Melzer. Die Antwort sei gewesen: in zwei Jahren sei es ein einziger gewesen, und in mehreren Bundesländern gebe es gar keine Statistiken. "Das ist kein Zeichen von Wohlverhalten, sondern von Systemversagen", sagte Melzer. "Die Behörden sehen gar nicht, wie blind sie sind."
Während Demonstranten teils in Schnellverfahren abgeurteilt würden, würden Verfahren gegen Polizisten eingestellt oder verschleppt, "bis niemand mehr hinschaut". Sein Fazit: "Die Überwachung der Polizei funktioniert in Deutschland nicht." Arroganz sei gefährlich, sagte Melzer: "Das zerstört das Vertrauen der Bürger in die Polizei."