
Uljana Wolf „Etymologischer Gossip“: Die Grenzen der Sprachen sind immer offen
Frankfurter Rundschau
„Etymologischer Gossip“: Die tollkühnen Wörter-Expeditionen von Uljana Wolf.
Unter der Weltzeituhr am Berliner Alexanderplatz hat vor vielen Jahren die Auseinandersetzung der Dichterin Uljana Wolf mit der Sprache begonnen. Sie versuchte damals als Schülerin ihr eben gelerntes Russisch anzuwenden und damit auf Passanten zuzugehen. Es war die Fremdheit der Sprache, die sie faszinierte, die körperliche Erfahrung von ungewohnten Sprachklängen, mit denen die Routine der Alltagssprache durchbrochen wird.
Diese Sensibilität für einen flirrenden polylingualen Zwischenraum, in dem sich die Grenzen des scheinbar selbstverständlichen Systems „Muttersprache“ auflösen, ist seither die elementare poetische Passion der 1979 in Ost-Berlin geborenen Schriftstellerin geblieben. In ihrem nach langer Verzögerung erschienenen Prosabuch „Etymologischer Gossip“, das Essays und Reden aus 13 Jahren versammelt, versucht Uljana Wolf nun ein eigenes Genre zu etablieren: den „Guessay“, der seinen Namen bei der englischen Vokabel „the guest“ (deutsch: „Gast“) borgt, um damit die Gastlichkeit zu betonen, die den Sprachexpeditionen der Autorin eigen ist. Es geht Wolf hier um ein multilinguales Spiel: um die Wanderungsbewegungen der Wörter, und damit auch um die eminent politischen Fragen der Einwanderung und der Migration.
Die Dichterin beobachtet als Übersetzerin die Wörter, wie sie zwischen dem Deutschen und dem Englischen, dem Polnischen oder Belarussischen hin und her fluktuieren. In Wolfs Verständnis von „Etymologischem Gossip“ haben die Sprachen dabei stets offene Grenzen. Das einst vom Philosophen Friedrich Schleiermacher etablierte Dogma, dass der Mensch sich für die Zugehörigkeit zu einer „Muttersprache“ entscheiden müsse, wird von ihr verworfen. Statt auf das obsolete Konzept „Muttersprache“ vertraut Wolf auf den Störfall in der Rede, auf die Erfahrung einer permanenten Unzugehörigkeit: „Dagegen inszeniert translinguales Schreiben als semiodiversity, als Vieldeutigkeit zwischen Sprachen, eine Form des Durch-Sprachen-Schreibens oder Schreibens am Rand, auf der Kippe, der Zungenspitze von Einzelsprachigkeit.“