Ukraine: Mit dem Kleinbus in die Hölle
DW
Mychailo Purishew hat mehr als hundert Menschen aus dem belagerten Mariupol geholt, trotz heftiger Kämpfe, Bombenhagels und verminter Straßen. Über einen, der einfach losfuhr - direkt in den Krieg.
Erst nach dem letzten Checkpoint setzte die Angst ein. Mychailo Purishew hatte den Außenposten der ukrainischen Armee auf dem Weg nach Mariupol passiert, als ihm klar wurde, dass er nun tatsächlich im Kampfgebiet war: "Plötzlich sah ich den ganzen Horror des Kriegs", erinnert er sich. Er navigierte durch Anti-Fahrzeugminen, die auf der Straße lagen, fuhr an ausgebrannten Panzern und zerschossenen Dörfern vorbei. "Ich hatte in jeder Brusttasche je zwei Bibeln, ich betete und bat um Vergebung für meine Sünden. Aber die Angst ging nicht weg." Es war der 8. März. Der Kampf um die Stadt tobte, Bomben fielen. Und Mychailo fuhr mitten ins Inferno.
Mychailo Purishew ist keiner, der lange zögert. Der Geschäftsmann lebt in Kiew, doch er stammt aus Mariupol, wo er vor dem Krieg einen Club betrieb. Als die Stadt eingekesselt war, entschied er, hineinzufahren. "Ich wusste natürlich, dass dort gekämpft wird und dass dort sonst niemand hinfährt. Aber dort waren meine Mitarbeiter". Mit Freunden legte er Geld zusammen, um einen roten Kleinbus zu kaufen, und fuhr los. "Die Entscheidung fiel mir nicht schwer", erinnert er sich. "Ich wusste ja nicht, was mich erwartet".
Mychailo Purishew hat in seinem roten Bus mehr als hundert Menschen aus dem belagerten Mariupol herausgebracht, vielleicht sogar 200. Er hat nicht mitgezählt. Der Weg führte durch umkämpftes Gebiet, hinein in eine Stadt, die unter konstanter Bombardierung stand. "Aus der Ferne sah Mariupol aus wie ein gigantisches Lagerfeuer", sagt er. "Nach und nach brannte es immer heller. Und bei meiner letzten Fahrt war es erloschen. Nur noch Asche war übrig."
Mychailo ist in den Dreißigern, trägt Fünftagebart und Baseballcap. Wir treffen ihn in der Nähe seiner Wohnung in einer Neubausiedlung bei Kiew: ockerfarbene Mehrfamilienhäuser für die aufstrebende Mittelschicht, gepflegte Grünstreifen und Blumenrabatte. Dort kommt Mychailo mit seinem roten Bus um die Ecke gefahren. , "Freiwilliger" prangt in großen weißen Lettern auf dem Fahrzeug, Motorhaube und Seitenwände haben zahlreiche Einschusslöcher, verursacht durch Granatsplitter oder Gewehrkugeln. Siebenmal war Mychailo mit dem Bus in Mariupol, er brachte Hilfsgüter in die Stadt und Menschen heraus. Wie durch ein Wunder hat keiner der Einschläge ihn oder einen Mitfahrer getroffen.
Als Mychailo Anfang März das erste Mal in Mariupol ankam, verschlimmerte sich die Lage in der Metropole bereits massiv. In den ersten Kriegstagen war Mariupol von den russischen Truppen umzingelt worden. Die ukrainische Armee verteidigte die Stadt, doch sie stand von drei Seiten unter Beschuss. Es gab keine Nachschublinien. So genannte Fluchtkorridore, begrenzte Waffenruhen, während der Zivilisten sicher aus der Stadt kommen sollten, wurden ein ums andere Mal vereinbart und wieder gebrochen. Wer aus der Stadt wollte, riskierte sein Leben. Wer blieb, auch.