Ukraine-Krieg und Atomkraftwerke: Was das Völkerrecht sagt
DW
Saporischschja, das größte Kernkraftwerk Europas, könnte zum Ziel russischer oder ukrainischer Angriffe werden. Nach dem Genfer Abkommen wäre dies unter bestimmten Umständen nicht verboten.
Die russische Armee hält das Atomkraftwerk Saporischschja in der Südukraine seit März besetzt, seit Ende Juli wurde es wiederholt beschossen. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für die Angriffe verantwortlich. Das hat Befürchtungen vor einer atomaren Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas ausgelöst. Der UN-Sicherheitsrat hatte vergangene Woche eine Dringlichkeitssitzung zur Lage in Saporischschja abgehalten, ohne einer Lösung näherzukommen.
Es ist nicht das erste Mal in diesem Krieg, dass die Frage der nuklearen Sicherheit gestellt wird. Dabei geht es nicht nur um einen möglichen Einsatz von Atomwaffen – Russlands Präsident Wladimir Putin hat diesen Gedanken offen ausgesprochen -, sondern auch um Kernkraftwerke als militärische Ziele.
Was sagt das Völkerrecht dazu? Das Genfer Abkommen von 1949 und seine späteren Zusatzprotokolle regeln die Austragung bewaffneter Konflikte und sollen ihre Auswirkungen begrenzen. Im 1. Zusatzprotokoll von 1977 ist in Artikel 56 vom "Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten" die Rede. Dabei werden neben Staudämmen und Deichen ausdrücklich auch Kernkraftwerke genannt.
Da die Russische Föderation und die Ukraine Vertragsparteien sind und keine Vorbehalte zum 1. Zusatzprotokoll geäußert haben, gelten die Regelungen für beide Staaten.
Und diese Regeln sind erstaunlich detailliert. Grundsätzlich dürfen danach Kernkraftwerke nicht angegriffen werden, nach Absatz 1 "auch dann nicht (…), wenn sie militärische Ziele darstellen, sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann". Gedacht ist hier zweifellos an radioaktive Strahlung.