Tunesien: Präsident will seine Macht ausbauen
DW
In Tunesien sind die Bürger aufgerufen, einer Verfassung zuzustimmen, die dem Präsidenten mehr Befugnisse zubilligt. Kritiker befürchten das Ende der Gewaltenteilung im bisherigen Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings".
Anfang kommender Woche ist es soweit: Dann lässt der tunesische Präsident Kais Saied die Tunesier über die neue Verfassung abstimmen, die er in den vergangenen Monaten hat ausarbeiten lassen. Den entsprechenden Entwurf, den er vor einigen Tagen im Amtsblatt des Landes präsentierte, gibt Auskunft über deren Tendenz. Insgesamt stärkt sie sehr deutlich die Macht des Präsidenten und schwächt die Gewaltenteilung in einem Ausmaß, das Kritikern Sorgen macht.
Damit setzt Saied offenkundig den Kurs fort, den er seit Sommer vergangenen Jahres eingeschlagen hat. Im Juli 2021 rief er den Notstand aus und entließ Regierungschef Hichem Mechichi. Im Februar 2022 löste er dann den Obersten Justizrates auf, Ende März das zuvor bereits suspendierte Parlament, und Anfang Juni entließ er 57 Richter und Staatsanwälte.
Legitimieren soll sich der Entwurf für die neue Verfassung unter anderem durch den Umstand, dass die Bevölkerung zwischen Januar und März dieses Jahres online Vorschläge für den Verfassungstext einreichen konnte. Allerdings nahmen nur ca. 530.000 Tunesier daran teil - bei insgesamt 9 Millionen Wahlberechtigten.
Trotz vielerlei Sorge vor einer zunehmenden Alleinherrschaft des Präsidenten im bisherigen Vorzeigeland des "Arabischen Frühlings": Der Entwurf komme bei einem Teil der Bevölkerung durchaus gut an, sagt Heike Löschmann, Leiterin des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis. Bemerkenswert seien allerdings die enormen Unterschiede zwischen Stadt und Land, ebenso zwischen einzelnen Regionen. "Landesweit betrachten die Menschen die Institutionen als korrupt, aber insbesondere im ländlichen Raum hoffen sie, dass der Präsident dagegen vorgeht. Saieds öffentliche Reden, in denen er für die Verfassung wirbt, kommen auch deshalb so gut an, weil sie die Missstände des Landes teils treffend umreißen", so die Expertin. Skeptisch seien hingegen eher die Bewohner der Großstädte, allen voran die von Tunis: "Sie sind weniger mit der Rhetorik des starken Mannes zu gewinnen und befürchten eine Aushöhlung des Rechtsstaats." Bei ihnen herrsche auch Sorge vor einem Verlust demokratischer Freiheiten.
Ablehnend äußert sich etwa die Menschen- und Frauenrechtsaktivistin Bochra Belhaj Hmida. "Natürlich bedeutet diese Verfassung eine Bedrohung für die Demokratie", sagt sie im DW-Gespräch. "Wir sehen die gesamten Errungenschaften der Revolution in Frage gestellt - etwa die Rede- und Vereinsfreiheit." Auf dem Spiel stehe auch der Kampf für eine unabhängige Justiz und für die Menschenrechte.