
Svenja Flaßpöhler: „Sensibel“ – Nähe, Distanz und andere Zumutungen
Frankfurter Rundschau
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler untersucht die Ambivalenz von Sensibilität als Kampfbegriff aktueller Debatten.
Was Ruhe und Ordnung ist, vermag nicht einmal die Polizei zu bestimmen. Jedenfalls lassen sich die Vertreter des Ordnungsamtes, wenn sie anlässlich einer Ruhestörung zur Schlichtung hinzugezogen werden, nicht auf verbindliche Aussagen ein. Maßgeblich für die Feststellung einer Störung sei nicht, was objektiv gemessen werde. Zur Bewertung der Situation gehöre vielmehr, was von den Betroffenen als Störung empfunden werde. Zwar sind die Beamten im Moment des Aufruhrs noch immer bemüht, so etwas wie gesunden Menschenverstand walten zu lassen. Bei der Verrichtung ihrer Arbeit aber sind sie gehalten, den Empfindungen der Beteiligten größtmögliche Beachtung zu schenken. Lärm ist nicht, was alle hören, sondern was von anderen als Lärm wahrgenommen wird.
Das Beispiel zeigt, wie sehr Sensibilität in unseren Alltag und nicht selten auch in die in ihm geltenden Rechtsverhältnisse Einzug gehalten hat. Es ist also überfällig, über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren nachzudenken, wenngleich die Berliner Philosophin Svenja Flaßpöhler beim Schreiben ihres Buches mit dem adjektivischen Titel „Sensibel“ keinen Polizeieinsatz vor Augen gehabt haben dürfte. Eher schon waren die Ordnungsimpulse einer sich rasant verbreitenden Cancel Culture Auslöser für ihre stichprobenartige Inspektion einer Geschichte der Sensibilität.
Schon bei der begrifflichen Annäherung ist die Chefredakteurin des populären Philosophie Magazins auf gemischte Gefühle gestoßen.