![Stefan Schönegg „Strukturen“: Um der Zeit selbst willen](https://www.fr.de/bilder/2022/02/18/91358355/28272283-stefan-schoenegg-1Sa2pjMRY4ef.jpg)
Stefan Schönegg „Strukturen“: Um der Zeit selbst willen
Frankfurter Rundschau
Stefan Schöneggs Album „Strukturen“
Es beginnt mit einer vertikal ungegliederten, beharrlich-komplexen Klangperiode, die ein bisschen wie eine Shrutibox klingt und sich dann langsam auflöst. „Langsam“ bedeutet hier vor allem, dass die Musik eine eigene Zeitstruktur etabliert und die Hörerin, den Hörer dazu bringt, sich hineinzuhorchen und die Wahrnehmung einzustellen auf das, was da erklingt. Das ist vor allem nötig, wenn man gerade draußen war oder Radio gehört hat oder in sonst einer dieser ubiquitär-normalen Hörsituationen gewesen ist, die unaufhörlich und mit wechselnder Dynamik, aber gleichbleibender Unwichtigkeit vor sich hin plappern.
Die „Strukturen“, die Stefan Schönegg für sein Quintett-Projekt „Enso“ geschrieben hat, sind Klanggebilde, die zunächst wie ein breites Band dahinfließen. Bei genauerem Hören – das sich zwangsläufig, aber nicht unbedingt sofort einstellt – erweisen sie sich mählich als komplexe, fast lebendig wirkende Wesen, in denen es rumort, in denen sich Dinge verschieben und verlagern, in denen sich etwas auflöst oder in denen am Rande etwas Neues erscheint, Reibungen, Obertonreihen, kleinste Tonhöhenschwankungen. Die Musik ist zwanglos in dem Sinne, dass sie nicht um Aufmerksamkeit wirbt. Sie verzichtet auf herkömmliche Inszenierungsweisen wie Virtuosität, variable Dynamik, rhythmische Markanz. Aber sie ist da. Sie ist präsent im Raum und in der Zeit, nicht unbedingt wie Bühnenmusik, eher wie eine Klang-Skulptur, ein fast selbstgenügsames Ereignis.
Natürlich ist sie nicht einfach da, sondern wird gespielt und live durchaus auch inszeniert. Sie erfordert von Musikern und Musikerinnen wie vom Publikum große Aufmerksamkeit und erhebliches Einfühlungsvermögen. Sie braucht die Zeit derer, die sich mit ihr – spielend oder hörend – befassen, und zwar einzig um dieser Zeit selbst willen, um sie zu gestalten und mit Aufmerksamkeit aufzuladen. Sie vermittelt eine eigentümliche Hör-Erfahrung, die sich keineswegs introvertiert nach innen wendet und schon gar nicht nach außen, sondern auf die vergehende Zeit selbst beziehungsweise auf eine komplex strukturierte Leere.
Es ist dies Stefan Schöneggs dritte Produktion mit dem Projekt-Titel „Enso“, was das Wort für einen kalligrafischen Tuschekreis ist. Die Aufnahme besteht aus einem komponierten und einem improvisierten Teil. Sechs nummerierte Strukturen, vier improvisierte Reflexionen. Die Unterschiede zwischen den beiden Teilen fallen nicht besonders auffällig aus, gleichwohl eignet den Improvisationen eine Zutat von geduldiger Spontaneität. Niemand fällt hier halsüberkopf in den Spielprozess hinein. Es herrscht eine enorme Achtsamkeit, die an den komponierten Strukturen geschult, ist, aber sich davon doch auch vergleichsweise deutlich unterscheidet. Aber die Musik entsteht nicht aus nachahmenden und auch nicht aus kontroversen Aktionen, sondern aus Abwarten, Einhalten und Eingehen.
Es ist eine sehr eigene Hörwelt, die hier entsteht und die die Gefahr mit sich bringt, dass man, wenn die Musik zu Ende ist, ein Gesprächsgemurmel aus dem Nebenzimmer als zu aufdringlich empfindet und für den Rest des Tages alle Radios ausschalten möchte.