Soziale Gerechtigkeit als Anspruch und Wirklichkeit
DW
Die Katholische Soziallehre hat die Rede von sozialer Gerechtigkeit lange geprägt. Auch in einer Kirche, die ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verspielt hat, bleibt der Ruf nach ihr ein elementarer Verkündigungsauftrag.
Die Band Fettes Brot war es, die Anfang der 2000er Jahre mit drastischen Hip-Hop-Worten die Krux sozialer Gerechtigkeit ins Wort gerappt haben. Da beschreiben sie in dem Lied „An Tagen wie diesen“, dass sie in Zeitung und TV wahrnehmen, wie weltweit Kinder sterben, Menschen leiden, verhungern, während sie frisches Obst in der Moulinex zum Smoothie häckseln. Die Sänger erschaudern über sich selbst, „doch scheiße, Mann, ich fühle nix – was ist denn bloß los mit mir, verdammt, wie ist das möglich?“ Die Erklärung lautet schlicht Abstumpfung: „Vielleicht hab' ich's schon zu oft gesehen man sieht's ja beinah täglich / Doch warum kann mich mittlerweile nicht mal das mehr erschrecken / Wenn irgendwo Menschen an dreckigem Wasser verrecken?“.
Niemand kann durch’s Leben gehen und täglich, stündlich, immerfort wegen des Leides der Welt sein Herz zerreißen. Aber in der Flut an Informationen und Bildern, die stetig auf uns einprasseln, braucht es doch immer wieder Ankerpunkte, an denen wir innehalten. Die Gedenktage der Vereinten Nationen wollen solche Akzente setzen und den Fokus auf konkrete Herausforderungen lenken. Der Welttag der sozialen Gerechtigkeit am 20. Februar jeden Jahres ist dabei deutlich unschärfer als etwa jene für Wasser oder die Rechte von Kindern. Soziale Gerechtigkeit ist nicht einheitlich definiert. Ein zentraler Bezugspunkt ist jedoch unumstritten das Maß an Ungleichheit in einer bestimmten Region, einem Staat oder gar weltweit. Ungleichheit wiederum bezogen auf das, was in der Entwicklungstheorie oft als „Verwirklichungschancen“ (A. Sen und M. Nussbaum) beschrieben wird.
Soziale Gerechtigkeit zielt dann auf den Abbau von Ungleichheiten in den Fähigkeiten und Freiheiten, ein Leben nach eigenen Lebensplänen zu führen. Damit sollen keineswegs Unterschiede in der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit vollständig ausgeglichen werden. Aber jeder Mensch muss doch jene Rahmenbedingungen erhalten, die die Nutzung der eigenen Fähigkeiten überhaupt erst ermöglichen. Gravierend eingeschränkt ist dies z.B. für tausende von Kindern in Deutschland, die in Familien aufwachsen, in denen Bildung einen geringen Stellenwert hat und niedrige Einkommen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben stark beschneiden. In vielen Ländern des Globalen Südens haben Menschen ohne Zugang zu den basalen Menschenrechten wie Nahrung, Wasser, Hygiene oder auch nur Arbeitsbedingungen, die frei von Ausbeutung sind, ebenfalls kaum Chancen auf die Verwirklichung ihrer Potentiale.
In ethischen Debatten lässt sich rasch aufweisen, dass es eine normative Pflicht der wohlhabenden Menschen und Nationen gibt, jenen zu helfen, die im Elend leben. Und auch emotional haben die meisten Menschen einen unmittelbaren Hilfeimpuls, wenn sie sehen, dass Kinder im Jemen, in Ostafrika oder sonstwo auf der Welt vor Hunger und Armut sterben. Und dennoch steht seit Jahrzehnten ein obszöner Konsum, von dem die raumfahrenden Milliardäre nur den bizarren Gipfel bilden, dem millionenfachen Leid von Menschen in unverschuldeter Not gegenüber.
Wie leben Menschen mit dieser Schizophrenie zwischen normativen Überzeugungen und Empathie auf der einen Seite sowie mehrheitlicher Solidaritätsverweigerung auf der anderen? Die Enzyklika Caritas in veritate beschreibt es treffend so (Nr. 19): „Die zunehmend globalisierte Gesellschaft macht uns zu Nachbarn, aber nicht zu Geschwistern.“ Oder wie Fettes Brot es angesichts der enormen Hilfsnotwendigkeiten konstatieren: Es bleibt „dieses dumpfe Gefühl, diese Leere im Kopf“. Sie ist verständlich und allzu menschlich. Dennoch müssen wir gemeinsam mehr tun.