Simone Lappert: „längst fällige verwilderung“ – Süß schmeckt, was den Frost überlebt hat
Frankfurter Rundschau
Unterm Eis: Simone Lapperts erster Lyrikband heißt „längst fällige verwilderung“ und legt einen brodelnden Untergrund frei.
Zu Beginn gibt es in Simone Lapperts erstem Lyrikband (nach zwei Romanen) nur eines, nämlich den Stillstand. Immer wieder findet sich das lyrische Ich in winterlichen Szenerien vor. Der Körper ist erstarrt oder vereist. „Ich wehre mich nicht, ich roste“, lautet daher ein charakteristischer Vers. Da das Subjekt in diesem Stadium also kaum die äußeren Umstände verändern kann, beschränkt es sich eben auf das Hereinholen der Welt ins Bewusstsein.
Es spricht von einem erträumten, „heimlichen sommer, / in dem alles nach innen wuchs“, mithin einer „zunehmenden vermoosung der gedanken“. Dabei erweist sich der metaphorische Übergriff der Natur als durchaus gewollt. Denn wie der Text „bruchstellen“ erläutert, setzt sich unsere Haut aus vielen Schichten zusammen, die sich durch biologische Prozesse erneuern – eben „damit du nicht verhornst und innen verdunkelst, / damit du dich ablöst und aufbrichst und rissig bleibst, / für streunendes, das dich sucht“. Und löst nicht gerade das Lose und Beiläufige allzu oft die erfreulichen Funkenschläge in unserem Kopf aus?
Statt sich also mit der Ohnmacht, die jedes Leben zu irgendwann einmal erfassen kann, abzufinden, sucht die Dichtung der 1985 geborenen Autorin ihre Leserinnen und Leser aufzurütteln. Wir sollen wieder aufmerksamer, sensibler werden. Auf die Widrigkeiten der Gegenwart reagieren die Gedichte nicht selten mit Bildern aus vergangenen Zeiten. Hoch kommen dann „erinnerungen wie kleine grüne erbsen, die von innen gegen die schote drücken“. Bisweilen überwältigen sie uns sogar, wenn „ein verjährter blitz ins brustbein“ schieß. Er „macht dich vierjährig und roh“.
Für derartige Befreiungsakte bedient sich Lappert eines erfrischenden Sprachduktus mit anekdotischem Einschlag. Hoffnung verspricht etwa die Weisheit einer Gärtnerin, die uns mitteilt, dass alles, was den Frost überlebt, danach süß und wohltuend schmeckt. Und selbst die Vorfreude mag manchmal schon Zufriedenheit herstellen, gemahnt beispielsweise ein Krokodil. Angriff ist gut, aber allein das Lauern bereitet schon einigen Genuss, so die Devise des Reptils. Man weiß, dass man warten muss. Weil es sich lohnt.
Je weiter wir nämlich in der Lektüre voranschreiten, desto deutlicher tritt auch eine tief liegende, eruptive Kraft in Erscheinung. Man könnte auch buchstäblich von einem doppelten Boden sprechen. Unter dem Eis tut sich etwas, „lagern sich undenkbarkeiten ab, / bewegen sich die kontinente aufeinander zu“. Energien bahnen sich Raum, lassen Neues entstehen: „Mit einem Mal sind die verschütteten worte (greifbar), / unterm packeis des kanons regen sich wutpartikel, / begehren auf: genug jetzt, mit dem nektar, der pflückerei, / dem gebeute, gestutze, gejäte, zu viel zeit / und welt schon vergangen“. Es gilt zu handeln, auch wenn es nicht leicht fällt. Der offengelegte Sprachfundus darf „ruhig hart sein im biss“.