Selenskyj an Scholz: "Zerstören Sie diese Mauer"
ProSieben
Es haben schon einige Staatschefs im Bundestag gesprochen, aber keiner der bisherigen Auftritte ist mit diesem vergleichbar.
Es haben schon einige Staatschefs im Bundestag gesprochen, aber keiner der bisherigen Auftritte ist mit diesem vergleichbar. Es ist Krieg in Europa und von der Front, aus der umkämpften Hauptstadt Kiew schaltet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag per Video in den ziemlich voll besetzten Plenarsaal im Reichstagsgebäude zu.
Die Schalte kommt wegen technischer Probleme erst mit kurzer Verzögerung zustande. In Kiew habe es "einen Anschlag in unmittelbarer Nähe" des Amtssitzes gegeben, sagt Parlamentsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne). Doch schon kurz darauf ist hinter der Regierungsbank auf einem großen Monitor Selenskyj zu sehen - in Militärkluft und mit der blau-gelben ukrainischen Flagge an seiner Seite.
Er wird mit stehendem Applaus von den Abgeordneten begrüßt. Dann redet er der deutschen Politik in einer Art und Weise ins Gewissen, wie man es im Bundestag selten zuvor erlebt hat. Die Sanktionen seien zu spät gekommen, die Pipeline Nord Stream 2 habe den Krieg mit vorbereitet, der Ukraine sei der Beitritt zur Nato verweigert worden, moniert er. Deutschland macht er für eine Mauer mitverantwortlich, die sich durch Europa ziehe. "Es ist eine Mauer inmitten Europas zwischen Freiheit und Unfreiheit. Und diese Mauer wird größer mit jeder Bombe, die auf die Ukraine fällt, mit jeder nicht getroffenen Entscheidung."
Das Wort Mauer kommt immer wieder vor in der Rede. Selenskyj weiß, wie er einen Nerv treffen kann. Am Tag zuvor hat er im US-Kongress an das japanische Bombardement des US-Stützpunkts Pearl Harbour auf Hawaii im Zweiten Weltkrieg und an die Anschläge vom 11. September 2001 erinnert. Jetzt ist es der deutsche Vernichtungskrieg vor 80 Jahren, den er erwähnt. Immer wieder würden Politiker wiederholen: "Nie wieder". "Und jetzt sehen wir, dass diese Worte einfach nichts wert sind", sagt er.
Selenskyj fordert härtere Sanktionen gegen Russland, einen Stopp der Energie-Importe und den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Und zum Schluss wendet er sich direkt an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der sich die Rede von der Regierungsbank anhört: "Lieber Herr Bundeskanzler Scholz, zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die Deutschland verdient." Er zitiert damit den US-Präsidenten Ronald Reagan, der 1987 bei einem Berlin-Besuch vom sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow gefordert hatte, die Berliner Mauer niederzureißen.