
Scholz' Kohl-Moment
n-tv
Mit einem Federstrich eines mächtigen Mannes im Kreml werden zentrale Gewissheiten der deutschen Politik über den Haufen geworfen. Der Schock aus Moskau hat wenigstens für den Moment die deutsche Bräsigkeit vertrieben.
Geschichte wiederholt sich nicht, auch dieser Tage nicht. Der russische Überfall auf die Ukraine kann noch zum Dritten Weltkrieg werden, während der Fall der Mauer vor mehr als 30 Jahren ein glückhaftes Geschenk war, das Millionen Menschen Freiheit und Wohlstand brachte.
Gegenteiliger könnten die Gefühle also nicht sein, und trotzdem erlebt der neue Bundeskanzler Olaf Scholz so etwas wie seinen "Kohl-Moment". Mit einem Schlag, mit dem Federstrich eines mächtigen Mannes aus Moskau werden zentrale Gewissheiten der deutschen Politik über den Haufen geworfen - inmitten der gewohnten Bräsigkeit ist ganz viel plötzlich möglich, ganz viel plötzlich nötig: Seit der Wiedervereinigung hat man die Kegel nicht so stürzen sehen. Olaf Scholz ist noch nicht Hundert Tage im Amt, da muss er seine Amtszeit komplett neu entwerfen. Und wie er im Deutschen Bundestag heute wirkte, will er das auch. Fünf erste Punkte stellte er am Sonntag vor. Bei Helmut Kohl waren es damals zehn.
Die Wiedervereinigung hat besonders in Ostdeutschland weit tiefer in den Alltag und die Lebenswege eingegriffen, als es jetzt, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, bevorsteht. Vergleichbar ist jedoch, wie sehr sich binnen Tagen die deutsche Politik neu aufgeladen hat: Vermeintlich unverrückbar fest gemauerte Positionen fallen in sich zusammen, vermeintlich Undenkbares ist heute plötzlich möglich und morgen vielleicht schon selbstverständlich. Eine "Zeitenwende" hat Olaf Scholz das genannt, und der Oppositionsführer Friedrich Merz sieht es genauso. Der Schock aus Moskau hat wenigstens für den Moment die deutsche Bräsigkeit vertrieben.
