Scholz' Bewährungsprobe
Süddeutsche Zeitung
Selbst für europäische Verhältnisse stehen bei der Gipfel-Premiere des neuen deutschen Kanzlers in Brüssel ungewöhnlich viele Krisen auf der Agenda. Zeit, sich zu orientieren, bleibt da nicht.
Olaf Scholz weiß, was ihn in Brüssel erwartet. Dutzende Male hat er als Minister an Treffen im Europa-Gebäude teilgenommen und kennt die üblichen Abläufe: aussteigen aus der Limousine, kurzer Weg durch die Gänge und dann über den roten Teppich zu den Kameras und Mikrofonen. "Doorstep" nennt man dieses Ritual: Die Politiker verkünden vor der Sitzung ihre Prioritäten, senden Warnungen aus oder machen Angebote. Gerade bei EU-Gipfeln lässt sich nach diesen Erklärungen oft erahnen, ob Kompromisse möglich sind. 16 Jahre lang wurde genau darauf geachtet, was Angela Merkel bei ihrer Ankunft sagte, denn die Kanzlerin vertrat nicht nur das mit Abstand wirtschaftsstärkste Land der EU, sondern ignorierte auch stets die Fragen der Journalistinnen und Journalisten. Die wussten wie die anderen Staats- und Regierungschefs: Hier überließ Merkel nichts dem Zufall, und jedes Wort ist wichtig.