Ruth Wolf-Rehfeldt zum 90. Geburtstag: Avantgarde mit den Typen der „Erika“
Frankfurter Rundschau
Vor fünf Jahren war die Pankower Typewriterin Ruth Wolf-Rehfeldt die Newcomerin und zugleich der älteste Star auf der Documenta. Jetzt wird sie 90 und bekommt den Hannah Höch-Preis.
Muse, eine der mächtigen Göttinnen der Künste, ist launisch. Küsst sie zu früh, lässt sie mitleidlos zu, dass alle Energien sich vorzeitig verbrennen und die Kreativität sich erschöpft. Andere lässt sie alt, grau und gebrechlich werden. Bis Erfolg und Anerkennung auf sie einprasseln wie Sturzregen.
Die Pankower Grafikerin Ruth Wolf-Rehfeldt, die am heutigen Dienstag 90 Jahre alt wird, ist zwar grau geworden und sehr fragil, doch sie steckt den späten Rummel um sie und ihre Schreibmaschinenbilder kregel weg. Die auf der Documenta 14 im Jahre 2017 von der jungen Künstlerschaft für ihre „Konkrete Poesie“ gefeierte Königin des einzigartigen „Typewritings“ nimmt es jetzt heiter und gelassen.
Und die in Wurzen Gebürtige, die ein paar Semester lang Philosophie studiert hat, ehe sie die Haupternährung der Familie übernahm, hält es mit Balzac: Der Dichter der „Menschlichen Komödie“ schrieb, Ruhm sei ein Gift, das der Mensch nur in kleinen Dosen vertrage.
Also genießt sie ihren Erfolg homöopathisch: Im Jahr 2020, mitten in einer der vielen Corona-Sperren, verlieh man ihr den Gerhard-Altenbourg-Preis, ausgelobt vom Altenburger Lindenau-Museum, das ihr eine Retrospektive ausrichtete. Berlin musste warten. Dort wird Wolf-Rehfeldt am 1. November den begehrten Hannah Höch-Preis und die dazugehörige Ausstellung des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen bekommen. Auch das Wendemuseum in Los Angeles zeigt ihre Schreibmaschinenkunst. Und zuvor wird das im Mai eröffnende Minsk in Potsdam, das vom Barberini-Gründer Hasso Plattner geschaffene Museum für Kunst der DDR, der lange verkannten Avantgardistin aus Pankow eine Werkschau widmen.
Ihre ungewöhnlichen Schreibmaschinengrafiken macht sie seit den 1970er Jahren. Angefangen hat es zunächst mit ihrem Brotberuf als Schreibkraft, dann als Büroleiterin in einem Ost-Berliner Betrieb. Ihre Fantasie ließ sie aus langweiligen Buchstaben und Zahlen grafische Bilder „schreiben“. Daheim am Küchentisch tippte sie auf ihrer „Erika“, Bestseller unter den Schreibmaschinen in der DDR, aus A–Z, Nullen, Kommas und Pluszeichen serielle Muster und Ornamente.