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Rolf Dieter Brinkmann: Einen Tag älter, tiefer und tot
Frankfurter Rundschau
Sich friedlich im Bett liegend von der Welt zu verabschieden: Das ist nicht jedem vergönnt.
Im März 1975 hat Rolf Dieter Brinkmann die letzten Korrekturen an seinem Band „Westwärts 1 & 2“ an den Verlag geschickt. Die Arbeit war eine Schinderei gewesen, das fertige Manuskript eine Erleichterung. Zweihundert Seiten mit Gedichten, nach langem Schweigen, schwierigen Jahren. Hundert Seiten hatte Brinkmann noch kürzen müssen. Der Umfang kann bei Gedichten eine Zumutung sein – zu viel Konzentriertheit, zu viel Energie.
Mit der Gewissheit, etwas geschafft zu haben, während der Rest des Lebens ziemlich in Trümmern liegt, macht Brinkmann Pläne. „Gerade habe ich nach England geschrieben wegen eines Cambridge International Poetry Festivals (…), wozu man mich eingeladen hat und wohin ich fahren werde und meine neuen Gedichte vortrage, eine hübsche Vorstellung für mich, meine Gedichte woanders vorzulesen als hier“, schreibt der Autor an seinen Freund Hartmut Schnell, der in Texas lebt.
Ebenfalls beim zum ersten Mal stattfindenden Festival zwischen dem 17. und 21. April 1975 mit dabei: John Ashbery und Edward Dorn. Und eine Handvoll deutscher Dichter – Reiner Kunze und Jürgen Theobaldy sowie die in England lebenden Erich Fried und Michael Hamburger. Brinkmann liest seine neuen Texte, teils in englischer Übersetzung – fast gehetzt, unfeierlich, mit großer Dringlichkeit, schnell und explosiv. Man kann diese Lesung nachhören, die Aufnahmen sind vor ein paar Jahren unter dem Titel „The Last One“ bei Intermedium Records erschienen. Man merkt beim Hören: Das ist ein Aufbruch. Zumindest in der Literatur scheint etwas voranzugehen. Mit Theobaldy verbringt er die darauffolgenden Tage in London. Der erinnerte sich später an einen ziemlich aufgewühlten und zugleich melancholischen Brinkmann. 35 Jahre alt, notorisch pleite, von der Kunst besessen.