Radikalenerlass von 1972: Wer hütet die Verfassung?
Frankfurter Rundschau
Vor 50 Jahren trat unter der ersten SPD-geführten Bundesregierung der Radikalenerlass in Kraft. Die Gegenwehr blieb nicht aus und hatte einen langen Atem. Von Arno Widmann
Am 28. Januar 1972 trat der „Beschluss der Regierungen des Bundes und der Länder zur Überprüfung von Bewerbern für den Öffentlichen Dienst auf deren Verfassungstreue“ in Kraft. Das bedeutete, dass von nun an alle Beschäftigten einer staatlichen Einrichtung und alle, die sich auf eine solche Stelle bewarben, darauf überprüft wurden, ob ihr Verhalten verfassungskonform war.
Es gab Organisationen – allen voran die gerade erst zugelassene Deutsche Kommunistische Partei (DKP) –, bei denen Mitglied zu sein einen nun nahezu automatisch aus dem Staatsdienst beförderte. Aber in anderen Fällen genügten auch Unterschriften unter Flugblätter oder die Teilnahme an Demonstrationen. Diesem Beschluss gelang es, die in zig Fraktionen gespaltene Neue Linke wenigstens in dieser Frage zu einen.
Von 1972 bis zur „ab 1985 erfolgten endgültigen Abschaffung der Regelanfrage, zuletzt 1991 in Bayern“, schreibt Wikipedia, wurden bundesweit insgesamt 3,5 Millionen Menschen überprüft. 1250 daraufhin überwiegend als „linksextrem“ eingestufte (Hochschul-)Lehrer und (Hochschul-)Lehrerinnen wurden demnach nicht eingestellt, etwa 260 Personen wurden entlassen.
Mit dem Abstand von 50 Jahren könnte man sagen: Angesichts dieser Zahlen ging es dabei offensichtlich weniger um die Radikalen – in überwältigender Mehrheit Linksradikale – im Öffentlichen Dienst als vielmehr um eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den Verfassungsschutz, dessen Apparat gehörig aufgeblasen werden musste, um den Anforderungen der „Regelanfrage“ nachkommen zu können.
1966 soll der wichtigste Sprecher der radikalen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, das erste Mal zum „langen Marsch durch die Institutionen“ aufgerufen haben. Es wurde zu einer der bekanntesten Parolen der 68er. Und zu einer der angenehmsten dazu. Niemand war dazu verdammt, Berufsrevolutionär zu werden. Man konnte einen ganz normalen Beruf ausüben und gleichzeitig – auf die eine oder die andere Weise – am Klassenkampf teilnehmen.