Präzise Messung eines Elementarteilchens zeigt Ungereimtheit: „Erschütterung des Standardmodells“
Frankfurter Rundschau
Forschende führen eine Messung des Elementarteilchens W-Boson durch und entdecken Überraschendes. Es könnte ein Hinweis auf eine neue Physik sein.
Batavia – Der Teilchenbeschleuniger Tevatron ist längst nicht mehr in Betrieb, doch das Gerät, das am Fermilab im US-Bundesstaat Illinois bis 2011 Protonen und Antiprotonen miteinander kollidieren ließ, hat so viele Daten produziert, dass Forschende noch heute mit deren Auswertung beschäftigt sind. Nun hat das internationale Konsortium „Collider Detector at Fermilab“ (CDF) die Masse eines wichtigen Elementarteilchens anhand der Daten so genau wie nie zuvor vermessen – und ist auf eine Ungereimtheit gestoßen.
Das W-Boson – ein wichtiger Baustein des Standardmodells der Teilchenphysik – ist einer im Fachmagazin Science veröffentlichen Studie zufolge schwerer als bisher erwartet. Zwar gibt das Standardmodell keinen direkten Wert für die Masse des W-Bosons vor, es setzt ihr aber enge Grenzen, die von den Massen anderer Teilchen abhängen. Das W-Boson wurde 1986 am CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) in Genf entdeckt, vorhergesagt wurde es bereits in den 1960er Jahren. Das W-Boson ist eines der schwersten bekannten Teilchen mit etwa der 80-fachen Masse eines Protons.
Hunderte Forschende analysieren am Fermilab in Batavia die Daten aus dem Teilchenbeschleuniger. Ihnen ist es nun gelungen, die Masse des W-Bosons zweimal genauer zu bestimmen als dies bisher der Fall war. Ihrer Studie zufolge stimmt die Präzisionsmessung der Masse des W-Bosons um sieben Standardabweichungen nicht mit dem Standardmodell überein. Die Standardabweichung ist ein Maß, das zeigt, wie sehr eine Messung vom erwarteten Wert abweicht. Sieben Standardabweichungen sind sehr viel – in der Teilchenphysik spricht man ab drei Standardabweichungen von einem „Hinweis“, ab fünf Standardabweichungen von einer „Entdeckung“.
Doch was bedeutet diese Abweichung? Forschende geben sich noch zurückhaltend. Der Teilchenphysiker André Hoang von der Universität Wien erklärt gegenüber science.ORF.at, das Ergebnis sei „nicht zu ignorieren“ und – sofern es dabei bleibe – ein „Blow“ für die bisher etablierte Theorie. Das Messergebnis sei ein Wegweiser in Richung neue Physik und ein „Nadelöhr für zukünftige Theorien“, durch die nun alle hindurchmüssten.
Ein Begleitartikel zu der Studie, der ebenfalls in Science erschienen ist, betitelt die neue Messung des W-Bosons als „Erschütterung des Standardmodells“. Darin schreiben die Forscher Claudio Campagnari (Universität von Kalifornien in Santa Barbara) und Martijn Mulders (CERN) weiter: „Da außergewöhnliche Behauptungen außergewöhnliche Beweise erfordern, wird die Behauptung der CDF Collaboration zusätzliche Experimente erfordern, um eine unabhängige Bestätigung zu erhalten.“ Die Forschenden am Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) des CERN hätten bereits Proben von W-Bosonen gesammelt, die eine bessere Präzision erreichen könnten. Von dort sind also weitere Messungen des W-Bosons zu erwarten.