Polen wackelt am Denkmal eines Titanen
n-tv
Papst Johannes Paul II. gilt in Polen als Symbolfigur der Freiheit und der nationalen Identität, und Respekt vor der Kirche ist den jüngsten Skandalen zum Trotz für die polnische Politik weiterhin wichtig. Doch die Haltung der Polen zur Kirche verändert sich.
Im Herbst dieses Jahres wählen die polnischen Bürger zum zehnten Mal nach dem Systemwechsel 1989 ihr Parlament. In Zeiten von zunehmender Inflation, hohen Kreditzinsen, steigenden Energiepreisen und nicht zuletzt des russischen Angriffskriegs gegen das Nachbarland Ukraine konkurriert die nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nicht nur mit der liberalen Oppositionspartei Bürgerplattform (PO), der linken Partei Lewica und der gemäßigt konservativen Polnischen Volkspartei (PSL), sondern auch mit der vergleichsweise neuen politischen Kraft "Polska 2050".
Statt ihre Wahlkampfprioritäten auf innen- und außenpolitische Themen zu konzentrieren, stellt die PiS erneut die katholische Kirche in den Mittelpunkt ihrer Kampagne. Nicht ohne Grund: Der Katholizismus wurde mit den polnischen Teilungen zum zentralen Identitätsmarker der Nation und verfestigte sich in der Zeit der Nationenbildung im 19. Jahrhundert durch die polnische Romantik. Bis heute gibt der Katholizismus dem Leben vieler Polen Orientierung und prägt ihre Weltsicht. 85 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zum Katholizismus, auch wenn nur 42 Prozent ihn praktizieren, was einen Rückgang von fast 30 Prozent innerhalb der letzten 30 Jahre darstellt.
Symbol des polnischen Katholizismus ist der von 1978 bis 2005 amtierende Papst Johannes Paul II. Er war die verehrteste polnische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts, ein polnischer Titan, an dem Kritik so gut wie tabu war. Das hatte gute Gründe: Seine polnische Herkunft und seine tiefe Verbundenheit zum polnischen Volk waren während seines gesamten Pontifikats deutlich zu erkennen. Johannes Paul II. setzte sich aktiv für die Freiheit Polens und anderer ostmitteleuropäischer Länder unter kommunistischer Herrschaft ein, seine Unterstützung für die Solidarność-Bewegung in den 1980er Jahren trug entscheidend dazu bei, den Zusammenbruch des Kommunismus in seinem Heimatland zu beschleunigen. Diese Verdienste machen ihn nicht nur zu Polens wichtigstem geistlichem Oberhaupt, sondern auch zu einer Symbolfigur der Freiheit, des Widerstands und der nationalen Identität.