Plus 450 Prozent: Strompreis-Schock beendet Italiens Aufschwung
Süddeutsche Zeitung
Gerade erst hatte das hoch verschuldete Land ein phänomenales Wirtschafts-Comeback geschafft. Doch nun drohen die Kosten für Energie den Aufschwung abzuwürgen.
Edoardo Accorsi, 27, macht Druck. Der Bürgermeister von Cento weiß nicht, wovon er die gestiegenen Stromrechnungen der 36 000-Einwohner-Gemeinde bezahlen soll. Er entschloss sich daher, die Beleuchtung der Rocca di Cento, einer Stadtfestung aus dem Jahr 1378, am Donnerstagabend auszuschalten. Die Ankündigung des jungen Provinzpolitikers wirkte ansteckend. In Bologna lässt man auf der Piazza Maggiore die Bronzestatue Neptuns, den die Bologneser nur "den Riesen" nennen, im Dunkeln stehen. In Rom erstrahlt Michelangelos Kapitol nicht im gewohnten Glanz. Am Ende zogen die Bürgermeister im ganzen Land mit und machen das Licht aus. Der italienische Städtebund schätzt, dass die gestiegenen Energiepreise ein Loch von 550 Millionen Euro in die pandemiegebeutelten Gemeindehaushalte reißen. "Ohne einen Hilfsfonds werden viele kleine Gemeinden pleitegehen", warnt Bolognas Bürgermeister Matteo Lepore die Regierung in Rom.
Die Dunkelheit passt zum Jahresbeginn: Italien leuchtet nicht mehr wie 2021 - was vor allem an der teuren Energie. Nach der Begeisterung über das Comeback des abgeschriebenen Euro-Landes hat sich ein Schleier der Tristesse über Italien gelegt. Der Überschwang ist drückenden Sorgen gewichen. Ein seltener Lichtblick in diesen Tagen: Nach zwei Jahren, in denen die Italiener mit außerordentlich strikten Einschränkungen gegen die Seuche gekämpft haben, darf man ab Freitag wieder ohne Maske auf die Straße. Halleluja.
Wenige Stunden vor dem Lichtstreik der Kommunen landete ein Brandbrief aus der Industrie auf dem Schreibtisch von Mario Draghi. In ihrem Schreiben richteten der Verbandschef der italienischen Keramikindustrie, Giovanni Savorani, und die Spitzen der großen Gewerkschaftsbünde einen verzweifelten Hilferuf an den Regierungschef. Die Weltmarktführer der Fliesen- und Sanitärbranche stecken in der Klemme. Schuld daran sind auch bei ihnen die exorbitant gestiegenen Energiepreise. Trotz ungebremster Auftragsflut drosseln viele Hersteller die Produktion, weil das Brennen ihres innovativen Feinsteinzeugs nicht mehr kostendeckend ist: Je mehr sie verkaufen, desto höher ihre Verluste.
Gemeinsam rufen Unternehmer und Beschäftigte die Regierung nun zum Eingreifen auf. "Der dramatische Anstieg der Stromrechnungen gefährdet eine für die italienische Volkswirtschaft wichtige Branche", schreiben sie Draghi. Entgegen früherer Annahmen sei der Preisschock kein vorübergehendes Phänomen, sondern werde voraussichtlich bis 2023 anhalten. "Die Gefahr besteht, dass wir bis dahin nicht überleben", sagt Giorgio Romani, Chef des Keramikkonzerns Gruppo Romani.
Es ist bitter: Die schlimmste Energiekrise seit den Siebzigerjahren droht Italiens sagenhaften Aufschwung abzuwürgen. Der Strompreis ist nach Angaben des Industrieverbandes Confindustria innerhalb eines Jahres um 450 Prozent gestiegen. Man schätzt, dass die Energiekosten der Industrieunternehmen 2022 auf 37 Milliarden Euro steigen - von 8 Milliarden Euro im Jahr 2019. Ohnehin sind die Stromkosten ein strukturelles Handicap für Italiens starke Exportwirtschaft. In Sassuolo zum Beispiel, wo das Herz der italienischen Keramikproduktion schlägt, zahlen die Fliesenhersteller 30 Prozent mehr für Strom als ihre europäischen Wettbewerber. Nun trifft der Gaspreisschock die Wirtschaft Italiens mit besonderer Wucht. Denn Strom wird auf der Mittelmeerhalbinsel zur Hälfte aus Erdgas gewonnen - gegenüber 17 Prozent in Deutschland und sieben Prozent in Frankreich. "Die Preisspannungen entlang aller Produktionsketten wirken sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit der italienischen Industrie auf den Weltmärkten aus", warnt das Forschungsinstitut Prometeia. Eine Inflationsspirale könnte ganze Wirtschaftszweige in den Ruin treiben.