Plädoyer für ein Embargo
Frankfurter Rundschau
Friedensethik ist alles andere als naiv. Sie ist der Machtpolitik der Stärke vielmehr an politischem Realismus überlegen. Von Olivia Mitscherlich-Schönherr
Irritiert mag man sich die Augen reiben: Ist vom kritischen Potenzial der Friedensbewegung wirklich nichts übriggeblieben? Erst haben uns die Bilder aus dem Bundestag erreicht: von den Standing Ovations für den Bundeskanzler, als er Waffenlieferungen an die Ukraine angekündigt hat. Dann folgten die Nachrichten vom öffentlichen Schulterschluss der Kirchenobersten. Am vergangenen Wochenende hat die Bischofskonferenz die politische Entscheidung, Waffen an die Ukraine zu liefern, mit Bezug auf die christliche Friedensethik als ethisch legitim behauptet. Ähnliche Verlautbarungen waren zuvor bereits von protestantischer Seite zu hören gewesen. Das Ideal „Frieden schaffen ohne Waffen“ im Zentrum der Friedensbewegung erscheint darin plötzlich als billiger Moralismus: als Schön-Wetter-Moral naiver Gut-Menschen, die die Nah-Ethik der Nächstenliebe auf das Feld des Politischen ausweiten – und dabei übersehen, dass es in der Politik um Selbsterhaltung, den Kampf ums Überleben geht.
Aber geht Friedensethik wirklich in billigem Moralismus auf, der im Ernstfall des russischen Angriffs wertfreier Machtpolitik weichen muss? Ich denke: Nein. Die eigentliche Pointe der Friedensethik besteht vielmehr darin, den Dualismus von Moralisiererei und wertfreier Machtpolitik zu unterlaufen. Friedensethik ist alles andere als naiv. Sie ist der Machtpolitik der Stärke vielmehr an politischem Realismus überlegen. Sie will aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt nicht aussteigen, weil sie politische Feinde in Freunde umdeutet. Allerdings weiß sie, dass politische Freund-Feind-Unterscheidungen meist ideologisch sind. Und v. a. hat sie verstanden, dass wir die politischen Feinde, die Putins nicht loswerden – beziehungsweise: nur zu dem Preis loswerden, dabei die ganze Menschheit auszulöschen.
Gerade wenn wir die Menschen in der Ukraine im Kampf um Frieden und Demokratie unterstützen wollen, hätten wir etwas von dieser herrschaftskritischen Friedensethik zu lernen. Wir täten gut daran, der Ideologie von den russischen Feinden und ukrainischen Freunden zu misstrauen – und die energie-, außen- und sicherheitspolitischen Kontexte ins Auge zu fassen, in denen der Bundestag die Waffenlieferungen beschlossen hat. Dazu gehören: die fortgesetzten Öl- und Gas-Geschäfte mit Russland; die vagen Versprechen an die Ukraine auf eine Nato- und EU-Mitgliedschaft, die niemand einlösen will. In diesen weiteren Kontexten lassen sich die Waffenlieferungen nicht mehr ohne weiteres als Akt der Solidarität mit dem ukrainischen Freiheitskampf bejubeln. Sie stellen sich eher als Tributzahlungen dar, damit die Ukraine auch weiterhin das russische Öl und Gas durch ihr Territorium fließen lässt – und nicht die Leitungen zerstört, um Putin die Kriegsgelder abzuschneiden. Mit unseren Energiegeschäften mit Russland und unseren Waffenlieferungen an die Ukraine tragen wir dazu bei, dass der Krieg noch lange fortgesetzt werden kann. Einer Friedensethik stünde es besser zu Gesicht, in Reaktion auf den Krieg die Energiegeschäfte mit Russland kritisch zu hinterfragen – als die Waffenlieferungen an die Ukraine not-zu-taufen.
Aber ist solche Kritik an den Bezügen von russischen Energieträgern nicht doch wieder blauäugige Moralisiererei? In diese Richtung weisen die Stellungnahmen des Bundeswirtschaftsministers: dass ein Embargo auf russisches Erdgas die wirtschaftliche Stabilität und den sozialen Frieden hierzulande gefährde – und deswegen politisch nicht zu verantworten sei. Meines Erachtens ist das friedensethische Plädoyer für ein Embargo jedoch auch diesem energiepolitischen Kalkül an Realismus überlegen. Menschen, die jetzt für ein Embargo plädieren, schätzen nicht nur die mittelfristigen Bedrohungen des sozialen Friedens hierzulande realistischer ein als diejenigen, die zur Sicherung des sozialen Friedens an den Bezügen von russischer Energie festhalten wollen; sie haben auch bedenkenswerte Alternativen anzubieten.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister auf unsere Abhängigkeit von russischen Gas- und Ölimporten verweist, dann geht er von den energiepolitischen Annahmen aus, die das Koalitionspapier der ‚Ampel‘ bestimmen: dass die Klimakrise durch grünes Wirtschaftswachstum sozial gerecht zu bewältigen sei und Erdgas dabei eine unverzichtbare ‚Brückenenergie‘ darstelle. In den Klimawissenschaften besteht jedoch ein breiter Konsens, dass die Maßnahmen, die aktuell im Sinne eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums angedacht sind, nicht ausreichen werden, um die Pariser Klimaziele einzuhalten. Das heißt: Auch mit ‚grünem‘ Wirtschaftswachstum lässt sich der Zirkel aus Wirtschaftswachstum, hohem Energieverbrauch, nachhaltiger Schädigung der Umwelt und den damit einhergehenden sozialen Belastungen nicht durchbrechen.