Pier Paolo Pasolini zum 100. Geburtstag – Verwehrte Nähe
Frankfurter Rundschau
Am heutigen Samstag ist der 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini, dem Dichter des modernen Films – das Meisterwerk „Mamma Roma“ kommt restauriert wieder ins Kino.
Als Pier Paolo Pasolini 1975 zu Grabe getragen wurde, schrie sein Freund, der Schriftsteller Alberto Moravia, einer Fernsehkamera seinen Nachruf förmlich entgegen: Italien habe einen Dichter verloren, von denen die Welt in jedem Jahrhundert höchstens drei hervorbrächte. Das Meer der Trauergäste glich einer politischen Demonstration, aber auch seine Gegner dachten nicht daran, nach seiner Ermordung zu verstummen.
Noch nach Monaten erschienen Bilder seines zerschundenen Leichnams in Boulevardzeitungen, begleitet von angeblichen Enthüllungen über seinen Lebenswandel. Blickt man heute auf diese Zeitungsausschnitte, entsteht das erschreckende Bild einer Zeit, in der eine konservative öffentliche Meinung förmlich nach Narrativen gierte, die Homosexualität mit Gewalt und Tod in Verbindung brachte. Doch auch wenn der Stricher Pino Pelosi für den Mord verurteilt wurde, spricht viel für ein Komplott: Bei Recherchen zu seinem unvollendeten Roman „Petrolio“ war Pasolini auf Verstrickungen zwischen Politik und organisiertem Verbrechen gestoßen.
Heute wäre Pasolini, am 5. März 1922 in Bologna geboren, 100 Jahre alt geworden, und noch immer erscheinen sein Werk und Leben vor allem in der italienischen Kulturöffentlichkeit wie eine offene Wunde. Wann immer dort ein italienisches Filmfestival eine neue Dokumentation oder seine restaurierten Werke zeigt, strömen bemerkenswert viele junge Menschen in die Vorstellungen. Besonders seine Kapitalismuskritik wirkt aktueller denn je.
Die Beobachtung einer radikalen und irreversiblen gesellschaftlichen Veränderung durch die Konsumkultur zieht sich als bohrender Schmerz durch Pasolinis Werk. Dass er zugleich selbst zum Objekt dieser Konsumkultur wurde, konnte ihm dabei nicht entgehen. 1972 erschien sein Name der deutschen Abteilung des Verleihs United Artists marktgängig genug, seine Verfilmung der „Canterbury Tales“ unter dem Titel „Pasolinis tolldreiste Geschichten“ herauszubringen.
Auch seine späten Adaptionen des „Decamerone“ und von „Tausendundeiner Nacht“ eigneten sich als Treibgut auf der damaligen Erotikwelle. Pasolini antworte darauf mit dem radikalsten seiner Filme, „Salo oder die 120 Tage von Sodom“. In Deutschland lange Zeit nicht zur Aufführung freigegeben, erscheint dieser Film aus heutiger Sicht erstaunlich alterslos – schon allein, weil es in der Filmgeschichte nichts Vergleichbares gibt. Pasolinis Vision einer von SS-Leuten und italienischen Faschisten organisierten sadistischen Orgie im Italien des Jahres 1944 hat von seiner verstörenden Kraft nichts eingebüßt – gerade weil sich die politischen Allegorien nicht einfach historisieren lassen.