
Nico Schlotterbeck - zwischen Genie und Wahnsinn
DW
Nico Schlotterbeck gilt als Hoffnungsträger in der Innenverteidigung von Borussia Dortmund und der deutschen Nationalmannschaft. Doch seit Monaten ist sein Spiel von Inkonstanz und individuellen Fehlern geprägt.
Am Ende des Spiels wusste Nico Schlotterbeck nicht, ob er jubeln oder traurig sein sollte. Eine knappe Stunde zuvor hatte er sich noch mit angespanntem Bizeps von seinen Mitspielern feiern lassen, kurze Zeit später war er nach einem individuellen Fehler jedoch wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Zwar gewann sein Verein Borussia Dortmund am Ende mit 4:3 knapp gegen den Abstiegsbedrohten FC Augsburg, kassierte jedoch erneut drei Gegentore. Es war ein schon fast typisches Schlotterbeck-Spiel. Am besten beschrieb der Blondschopf seine Leistung wohl selbst: "Qualität vorne und keine Qualität hinten." Nicht das beste Zeugnis für einen Spieler, dessen Hauptaufgabe als Innenverteidiger das Verhindern von Toren ist.
Das 23 Jahre alte Abwehr-Talent, das vor der Saison für rund 25 Millionen Euro von Freiburg nach Dortmund gewechselt ist, fiel zuletzt immer öfter durch Unsicherheiten auf. Schlotterbeck spielt einerseits mit viel Selbstbewusstsein, bewundernswerter Leidenschaft und großem Kampf, andererseits aber auch mit viel Risiko und macht dabei (immer wieder) entscheidende Fehler. Seine Diagonalpässe sind gewagt, finden sie aber den Weg zu den Außenstürmern, können sie ein probates Mittel für mehr Torgefahr sein. Der Grat, auf dem Schlotterbeck wandert, ist äußerst schmal. Sinnbildlich dafür steht die Schlotterbeck-Bilanz gegen Augsburg: Hinten ein kapitaler Ballverlust, der zum zwischenzeitlichen Ausgleich führte. Vorne ein Treffer zur erneuten Führung. Hinten ein Fehlpass, der wieder den Ausgleich bedeutete. Vorne ein langer Ball, der den Siegtreffer einleitete.
"Das Spiel allgemein zu erklären, ist sehr schwer", sagte Schlotterbeck nach der Partie. Ebenso schwer zu erklären sind seine extrem schwankenden Leistungen seit seinem Wechsel aus dem Breisgau in den Ruhrpott. Nicht wenige Experten hatten gemutmaßt, dass Borussia Dortmund mit den Neuzugängen Schlotterbeck und Niklas Süle sowie dem wieder erstarkten Mats Hummels ihre Abwehrprobleme in den Griff bekommen und ein ernster Konkurrent für Bayern München im Titelkampf sein könnte. Nach der Hälfte der Saison ist die Realität jedoch: Nichts ist beim BVB in dieser Saison gesamtheitlich besser geworden, und besonders die Abwehr um Schlotterbeck wirkt löchriger denn je. 24 Gegentore nach 16 Partien und Platz sechs in der Bundesliga sprechen eine deutliche Sprache. Jedes Spiel des BVB wirkt wie eine Wundertüte und nicht zuletzt wegen der Anfälligkeit der Defensive schwankt der Verein zwischen Extremen.
Mittelfeldspieler Julian Brandt erklärte bereits nach dem 2:4 in Mönchengladbach im November beispielhaft: "Ich hatte das Gefühl, es kann ein 0:5 geben oder ein 5:3 oder auch ein 8:4". Bei jenem Spiel, dem letzten vor der WM-Pause, war auch zum ersten Mal deutlich geworden, in welcher Formkrise sich der 1,91 Meter große Schlotterbeck befindet. Bereits zur Halbzeit wurde der Neuzugang ausgewechselt - es war der Tiefpunkt einer Entwicklung, die bereits in den Wochen zuvor beim Innenverteidiger zu beobachten war. Die genauen Gründe für dieses Formtief sind wohl nur mit einem internen Einblick zu finden, doch der ehemalige langjährige Bundesliga-Spieler und Trainer Ewald Lienen liefert einen Erklärungsansatz: Bereits im September appellierte der 69-jährige in seinem Podcast "der Sechzehner" an Schlotterbeck, sich wieder auf das Wesentliche zu fokussieren.
"Ich halte Nico Schlotterbeck für einen der talentiertesten Innenverteidiger Deutschlands und er hat in den letzten Jahren eine super Entwicklung genommen", sagte Lienen. "Aber seit er in Dortmund und in der Nationalmannschaft ist, also quasi im Fokus, fängt er an, eine Rolle zu spielen. Das ist unglücklich. Er macht den Mund auf, er animiert das Publikum und in Tateinheit mit dieser nicht-authentischen Rolle, die er spielt, macht er einen Fehler nach dem anderen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch."