
Natan Sznaider: „Fluchtpunkte der Erinnerung“ – Das Gebot des „Nie wieder“ und seine Lesarten
Frankfurter Rundschau
Der in Tel Aviv lehrende Soziologe Natan Sznaider hat einen Schlüsseltext zur Debatte über Holocaust und Kolonialismus geschrieben.
Wie schnell man sich in gut gemeinter Empörung verheddern kann, musste kürzlich die amerikanische Schauspielerin Whoopi Goldberg erfahren. Sie hatte sich erregt gegen die Absetzung des Comics „Maus“ als Schullektüre im Bundesstaat Tennessee gewandt, weil dieser unflätige Sprache enthalte. Dabei war es auch um das Wort „bitch“ (Hure) gegangen. Das vielfach ausgezeichnete Werk Art Spiegelmans handelt vom Überleben seiner Eltern, die als polnische Juden der Schoah entkamen, nicht aber den sich anschließenden Traumata. Spiegelmans Mutter hatte sich 1968 das Leben genommen.
Goldbergs Reaktion war ein öffentliches Kopfschütteln über einen so ignoranten bildungspolitischen Rigorismus. In einer Fernsehsendung hatte sie zunächst auf eine kuriose Ausblendung des geschichtlichen Kontextes hingewiesen. „Ich meine, es geht um den Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen Menschen, aber das hat Sie nicht gestört?“, hatte sie gefragt und hinzugefügt: „Lassen Sie uns ehrlich sein, denn beim Holocaust geht es nicht um Rasse.“ Und weiter: Der Holocaust sei „von Weißen an Weißen begangen“ worden.
Die Reaktionen auf Goldbergs unvermittelt daherkommende Schlussfolgerung ließen nicht lange auf sich warten. In moderater, aber entschiedener Form korrigierte Jonathan Greenblatt von der Anti-Diffamierungsliga die afro-amerikanische Oscar-Preisträgerin. Beim Holocaust sei es um die systematische Vernichtung des jüdischen Volkes durch die Nazis gegangen, die sie für eine minderwertige Rasse hielten. Aus der politischen Intervention einer Schauspielerin war ein brisanter Definitionsstreit geworden.
Holocaust, Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus, Postkolonialismus – die Vokabeln sind schnell zur Hand. Immer öfter aber offenbaren sie Abgründe der politischen Rhetorik. Was gerade noch in bester aufklärerischer und beinahe bannender Absicht benannt wurde, verweist nun immer öfter auf antagonistische Weltbilder und raffinierte Debattenstrategien. Missverständnisse lauern überall und durchziehen das eben noch Selbstverständliche.
Das Gebot, sich aus politischer Verantwortung heraus der Historie zu vergewissern, hat zuletzt geradewegs in eine geschichtspolitische Kontroverse geführt, in der die Einzigartigkeit des Holocausts in erbitterte Konkurrenz zu den kolonialistischen Gewaltverbrechen gestellt wird. Was derzeit unter dem Stichwort „zweiter Historikerstreit“ verhandelt wird, hat, oft in irritierender Schärfe, den akademischen Raum längst verlassen.