Mykki Blanco und Oliver Sim – Aus komplizierten Leben erzählen
Frankfurter Rundschau
Vor dem Welt-Aids-Tag am 1. Dezember: Wie großartige Alben von Mykki Blanco und Oliver Sim auch das in der populären Musik lange tabuisierte HIV zum Thema machen
Fallen wir direkt vor dem Welt-Aids-Tag mit einer steilen These ins Haus. Zwei der tollsten, schillerndsten, widersprüchlichsten Popalben der Saison kommen von Leuten, die HIV-positiv sind und auf ihren Alben darüber reden – respektive singen. Mykki Blanco und Oliver Sim (The XX). Die These suggeriert einen Kausalzusammenhang, den man weder leugnen noch bestätigen kann, ohne zu kurz zu greifen. Haben Blanco und Sim tolle Alben gemacht, weil sie darin von ihrem HIV-Status erzählen? Nein. Haben Blanco und Sim tolle Alben gemacht, obwohl sie von ihrem HIV-Status erzählen? Nein.
Beide Alben, das der US-amerikanischen trans Frau Blanco und das des cismännlichen Briten Sim verhandeln sexual politics auf diese, jene und fast jede Weise. Und sie bedienen sich dabei künstlerischer Idiome und Haltungen, die seit Jahrzehnten zum Einsatz kommen, wenn Queer Folks expressiv über sich Auskunft geben, in dem Wissen, dass die straighte Mehrheitsgesellschaft mehr oder weniger interessiert oder auch mehr oder weniger angewidert zuschaut und -hört.
Blanco und Sim präsentieren und performen geschminkte Körper wie geschminkte Stimmen (Pitch, Autotune, Vocoder), Hi Energy, Perücken, Exzess, Maskerade, Camp. Transgressionen, die wir kennen aus Andy Warhols Factory, aus dem Queer Cinema des Jack Smith, den hyperexaltierten Hits von Sylvester, der Gay Black Diva (so der Titel seiner Biografie), und, quasi aus zweiter Hand angeeignet, von den Popdiven Madonna, Grace Jones, Roisin Murphy, Beyoncé, Gaga ...
„I’m ugly“, croont Oliver Sim mit seinem tiefergelegten Bariton, die Mikrofonierung erzeugt maximale Intimität. Es sind die ersten Worte seines ersten Soloalbums, mit 32, nach einem halben Leben als Bassist der britischen Somnambul-Rave-Band The XX. Sim, – ach Quatsch, nennen wir ihn Oliver. Oliver ist selbstverständlich alles andere als hässlich. Und so, wie er sich fotografieren lässt, weiß er das selbstverständlich. Ein zartes, feingliedriges Wesen, das sich dem begehrenden Blick preisgibt – von wem auch immer.
Oliver singt von Angst und Scham, unverschämt nah am hörenden Ohr über einen zunächst beatlosen Keyboard-Fluss. Streicher setzen ein, er hebt die Stimme, singt nicht mehr direkt ins Ohr, wechselt in den Konfessionsmodus, coram publico: „I’ve been sick and I’m perverse, Oh, I’m hideous.“ Hideous heißt abscheulich, grässlich, hässlich, scheußlich, fratzenhaft oder auch affrös. „Hideous Bastard“ ist der Titel von Olivers Album, die Figur des Bastards wird ja gerne mal ins Ambivalente gedreht; hallo, „Inglourious Basterds“.