Menschen brauchen keine Religion und keine Gesetze – „Sie sehen selbst, was gut ist“
Frankfurter Rundschau
Vor 300 Jahren: Christian Wolff zeigt in seiner China-Rede auf, dass Menschen weder Religion noch sonstige „Oberherrn“ brauchen, um moralisch richtig zu handeln. Heiner Roetz über eine der seltenen Sternstunden einer zukunftsweisenden kosmopolitischen Philosophie.
Wenn in der Philosophie ein Datum zu begehen ist, dann handelt es sich in der Regel um den Geburts- oder Todestag eines ihrer großen Vertreter. Selten nur geht es um Ereignisse anderer Art. Zu diesen ist zweifellos die Rede Christian Wolffs (1679–1754), des Prorektors der Universität Halle, vom 12. Juli 1721, anlässlich der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Lange zu zählen. Wolff wählte ein Thema, das einem schwelenden Streit zwischen ihm und den Hallenser Pietisten ein neues Kapitel hinzufügte: Er sprach über die „philosophia practica“ der Chinesen. Wolff suchte gegen den „Eifer der Lutheraner und Catholicken“ nach einer Philosophie, die die Wahrheit des Glaubens auf Rationalität zurückführt, was ihn in einen Konflikt mit auf der Unergründlichkeit der Offenbarung beharrenden Theologen bringen musste. Im pietistischen Halle war er in der Höhle des Löwen, und seine Gegner, denen er die Studenten abspenstig machte, sannen darauf, sich des lästigen und gefährlichen Konkurrenten zu entledigen. Die China-Rede brachte dann das Fass zum Überlaufen. Was Wolff vorzutragen hatte, so der Zeitzeuge Gottsched, wirkte wie „Feuerfunken, die in einen fertigen Zunder fielen“. Die Rede „machete das größte Lärmen, das zu unsern Zeiten irgend eine andere gemachet haben kann“. Was hatte Wolff gesagt, das landesweit für Empörung sorgte? Er hatte die Ethik des Konfuzius als Beleg zitiert, dass Moral ohne Religion möglich sei und dies als Bestätigung seiner eigenen Philosophie präsentiert, hatte sich also gegen die herrschende Theologie mit einer heidnischen Lehre verbündet. Hiermit lag er in einem Trend, denn die Aufklärer hatten China als Verbündeten im Kampf gegen das Monopol der christlichen Offenbarung entdeckt. Niemand hatte sich aber bislang so provokant auf die chinesische Seite gestellt. Dies roch nach Atheismus.More Related News