Meinung: 100 Tage Olaf Scholz - der neue Kanzler in einer neuen Realität
DW
Unter dem neuen Bundeskanzler ist Deutschland schon jetzt ein anderes Land geworden. Das liegt einerseits an Wladimir Putin, aber noch mehr liegt es an der Entschlossenheit von Olaf Scholz, meint Michaela Küfner.
Genau drei Tage brauchte Olaf Scholz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, um die Eckpfeiler von Angela Merkels Außen- und Sicherheitspolitik über den Haufen zu werfen. An Tag 79 der Nach-Merkel-Ära zerschoss Wladimir Putin die Friedensordnung Europas. An Tag 81 sicherte Scholz entgegen aller früheren Aussagen in einem Tweet der Ukraine deutsche Waffen zu. Weniger als weitere 24 Stunden später verkündete Scholz gar eine "Zeitenwende" und skizzierte konkret eine neue, remilitarisierte deutsche Politik. Nur Tage zuvor hätte ihn das in der eigenen Partei, der sozialdemokratischen SPD, politisch noch den Kopf gekostet.
100 Milliarden Euro extra für die Bundeswehr, außerdem ab sofort mindestens (!) zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung - eine Übererfüllung des NATO-Ziels! Nicht nur Journalisten, vor allem die eigenen Abgeordneten rieben sich die Augen und schlugen teils die Hände über dem Kopf zusammen angesichts der Worte aus dem Mund ihres erst kurz zuvor gewählten Bundeskanzlers. Für Scholz gibt es seit diesem Tag keine roten Linien und auch kein Halten mehr.
Anfang Februar hatten Twitter-Nutzer noch mit dem Hashtag #WoIstScholz nach dem Bundeskanzler gefahndet. Um Tag 50 der neuen Regierung herum lag die konservative CDU tatsächlich schon wieder vor der SPD in den Umfragen. Scholz hatte allzu lange allzu wenig zur rasanten Verbreitung des Omikron-Virus, der Debatte um die Impfpflicht - überhaupt zu irgendetwas - öffentlich gesagt. So schüchtern, so verhalten - wie ein neuer Kanzler mit Gestaltungswillen wirkte er jedenfalls nicht.
Scholz gab sich auch beim Thema Russland zunächst verhalten. Angesichts des russischen Truppenaufmarsches war er es, der bis zuletzt an der Diplomatie festhielt. Selbst dann noch, als US-Geheimdienste vor einem direkt bevorstehenden Angriff warnten. Auch im Scheinwerferlicht des Weißen Hauses ließ er die diplomatische Tür zu Putin immer noch einen Spalt weit offen. Biss sich lieber auf die Zunge, als Nord Stream 2, die Erdgas-Pipeline von Russland nach Deutschland, auch nur zu erwähnen. Das ließ Raum für Zweifel an der Zuverlässigkeit Deutschlands als Bündnispartner. Im Raum stand die Frage, ob der französische Präsident Emmanuel Macron die neue Führungsfigur Europas werden würde - an Stelle des Amtsnachfolgers von Angela Merkel.
Umso entschlossener handelte Scholz, als klar war, dass alle diplomatischen Bemühungen umsonst waren. Dass Putin den Angriff wohl schon seit Monaten fest geplant hatte. Im Tandem mit seiner grünen Außenministerin Annalena Baerbock zeigt der Bundeskanzler, dass Deutschland für eine wertegeleitete Politik stehen will. Dabei überlässt er ihr die Maximalforderungen, Putin am besten gleich vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen. Er selbst spricht zwar von einem "kaltblütigen Angriffskrieg" - sucht aber weiter nach Lösungen auch MIT Putin.