Mary Ruefle „Mein Privatbesitz“: Dass direkt unter uns der Planet Erde ist
Frankfurter Rundschau
„Mein Privatbesitz“: Die verblüffenden und sehr klugen Prosaminiaturen der Lyrikerin Mary Ruefle.
In den Texten von Mary Ruefle geschehen merkwürdige Dinge, aber sie sind von dieser Welt. Ein gelber Fink erzählt: „Ich bin der gelbe Fink, der eine Stunde bevor sie starb, zu ihrem Futterspender kam. Ich war das letzte Lebendige, was sie sah, meine Verantwortung war groß.“ Ein Wohnzimmer wird schaurig überschwemmt, die Frage, ob das ein Alptraum ist, hat dabei nicht so viel Relevanz. Es ist ein Erlebnis, und die Frau, die hier lebt, richtet sich damit ein.
Oder: Ein „wohlmeinender Herr, der seine eigenen Theorien über Schlüssel hatte“, nimmt sich vor, „einen jungen Schlüssel großzuziehen wie ein kleines Kind“. Das zum Beispiel klingt unwahrscheinlicher, als es im Text klingt. Dem Wesen eines Schlüssels, der sein Dasein in wichtiger, aber für ihn völlig rätselhafter Position an einem dunklen (wahrhaft abgeschlossenen) Ort verbringt, kann man nicht näher kommen als hier.
Oder: Der Graf von Staffordshire, ein Zeitgenosse Walter Scotts, lässt seinen eigenen, mittelmäßigen Roman auf ein großes Porzellanservice schreiben (Geld spielt keine Rolle) und bei großen Dinnereinladungen reihum vorlesen. Nach seinem Tod wird das einmalige Werk zerdeppert. Natürlich, auch die Autorin räumt ein, dass das naheliegt, bleibt allein der Teller „Finis“ übrig. Das ist einer der Momente, in denen man auf die Suche gehen wird, nach dem Grafen und dem Porzellan, nicht einmal, weil man der Autorin misstraut, sondern weil man Näheres erfahren will (ist das Buch wirklich so mittelmäßig gewesen, gibt es wirklich kein Manuskript?). Es zeigt sich, dass sogar größtes Misstrauen am Platze gewesen wäre. Hinweise finden sich lediglich auf ein Service, das vor ein paar Jahren hergestellt worden ist – Ruefle zu Ehren.
Der unanregbare Schüler Frank sagt zu seinem Englischlehrer, der sich alle Mühe gibt und ihm gerade wieder eine Lektüre, Herman Melvilles „Bartleby der Schreiber“, vorgeschlagen hat: „Ich möchte das lieber nicht.“ Das ist für Melville-Leser wie auch den Lehrer ein Hammer, lautet so doch der berühmteste Satz dieser berühmten Erzählung. Frank ist das wurscht. Dem Lehrer, der versucht, nicht den Schwung zu verlieren, „tat die Literatur leid mit ihrem traurigen Schicksal, sie sollte in der Lage sein, die Welt zu retten, konnte es aber nicht, doch es war nicht ihre Schuld“.
Sollte auch der Band „Mein Privatbesitz“ in der Lage sein, die Welt zu retten? Gewiss ist es nicht seine Schuld, dass er es nicht kann. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass hier existenzielle Zusammenhänge hergestellt werden, die den Blick auf das Ganze grundsätzlich verändern sollten. „Beobachtungen am Boden“ etwa stellt einen selbstverständlichen, aber weitgehend unbeachteten Zusammenhang her: „Der Planet aus nächster Nähe betrachtet heißt der Boden .“ Der Mensch staunt, könnte man hinzufügen, über die Kugel, die er auf Außenaufnahmen sieht. Er staunt nicht darüber, dass er ständig steht, geht und liegt auf diesem riesigen Objekt im weiten All.