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Mário de Sá-Carneiro: „Himmel in Flammen“ – Unmotivierte Zärtlichkeit
Frankfurter Rundschau
Lange unterwegs, jetzt endlich angekommen: Acht poetische Texte von Mário de Sá-Carneiro, der früh starb und im Schatten seines großen Freundes Pessoa blieb.
Es gibt ein Farbfoto von Mário de Sá-Carneiro aus dem Jahr 1912, das den 1890 geborenen Sohn einer wohlhabenden Lissabonner Familie kurz nach seiner Ankunft in Paris zeigt. Die bürgerliche Welt der portugiesischen Hauptstadt ist ihm zu eng geworden; nun will er sich in seiner Selbständigkeit präsentieren und gleicht dabei selbst ein wenig jenem fröhlichen Kunterbunt, zu dem ihm Ich und Welt in den nächsten Jahren werden sollten: korrekt gekleidet mit weißem Hemd, Schlips und Stockschirm, mit weichem, noch kindlichem Gesicht und sanftem Blick, ein perfekter Senhorito, der aber nicht Anwalt werden, sondern neugierig sein will auf die Möglichkeiten der modernen Welt und seiner eigenen Entwicklung – weshalb er denn auch eine Kopfbedeckung trägt, die zwischen Schiebermütze und wagnerianischem Künstler-Barett changiert. So präsentiert sich der junge Mann der künstlerischen Avantgarde, die sich in der französischen Hauptstadt gerade glanzvoll zu entfalten beginnt.
Sá-Carneiro war mit Fernando Pessoa befreundet, der ihn sehr inspirierte. Gemeinsam werden sie im Juli 1915 das berühmte zweite Heft der Zeitschrift „Orpheu“ herausgeben, das zum Fanal einer erneuerten Dichtung werden sollte. Das brave Lissabonner Publikum hielt die darin vertretenen Lyriker ob ihrer Kühnheiten für geistesgestört; das Heft dokumentiert jedoch die Rezeption des Futurismus in Portugal sowie den Beginn des Interseccionismo, einer die einheitliche Perspektive aufbrechenden, in der Malerei dem Kubismus verwandten Schreibweise. Insbesondere Pessoa wird sie zur Reife bringen.
Die vorliegende Ausgabe, von dem Frankfurter Romanisten Gerhard Wild veranlasst und mit einem informativen Nachwort versehen, bietet dem deutschsprachigen Publikum zum ersten Mal acht Texte Sá-Carneiros, in denen sich zeigt, dass dieser Dichter dabei gewesen war, einen anderen Weg einzuschlagen als sein später weitaus berühmterer Freund. Es handelt sich nicht um Novellen im traditionellen Sinn, sondern um fortgesetzte Reflexionen der eigenen Befindlichkeit, die sich durchaus auch erzählerischer Passagen bedienen. Fremd ist ihnen dabei jene Abwertung der Wirklichkeit und ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit, die Pessoa aufgrund seiner gnostischen Überzeugung dass die sichtbare Welt dem Demiurgen gründlich misslungen sei, wieder und wieder vorgenommen hat. Weinberge und Obstgärten werden für Sá-Carneiro des Nachts zu tatsächlichen Epiphanien, während Pessoa in solchen Landschaften nur von der eigenen Imagination solipsistisch hingezeichnete Kulissen erkennen mochte, an deren Unwirklichkeit er doch gleichzeitig litt.
Sá-Carneiro wagt es, sich selbstverliebt zu bejahen: „Früher küsste ich mich in den Spiegeln“, inzwischen weiß er aber, dass er sich selbst ganz preisgeben muss, um dem namenlosen Mysterium zu begegnen, um dessentwillen er sich auf den Weg gemacht hat, auch wenn er sich dabei größten Ängsten aussetzen muss. Es sollte dies ein völlig sinnliches Erlebnis sein: „Eines Tages – endlich! – den violetten und vollen Geschmack des MYSTERIUMS einsaugen können!“ Darum bekennt er auch: „Alles, was mich beeindruckt, hat sich für mich sexualisiert – und nur sexuell kann ich es durchschwingen, begehren und erleiden ... .“
Unmotiviertheit ist wohl der Begriff gewesen, unter dem sich Sá-Carneiro seine poetischen Erfahrungen vorstellen wollte. „Im übrigen entsteht alle naselang unmotivierte Zärtlichkeit in mir, und – noch absonderlicher – unmotivierte zärtliche Scham.“ Dass er sich in diesem Zusammenhang auch von der Vorstellung eines acte gratuit, einer spontanen, völlig unmotivierten Bluttat, faszinieren ließ, war der Epoche geschuldet. Wenig später werden auch André Breton und André Gide diese Vorstellung als Metapher für eine ästhetische Durchbrechung der bürgerlichen Alltagswelt verwenden.