Leipzig 2022: Stell dir vor, es ist keine Buchmesse und alle gehen hin
Frankfurter Rundschau
Weil es viel zu besprechen gibt: Eindrücke aus Leipzig, wo sich die „ungebündelte Empörung“ über die Absage zu einem eindrucksvollen Treffen entwickelt hat
Ob mit oder ohne Slogan wie „Leipzig liest trotzdem“, „Buchmesse Pop up“ oder „Weiter:lesen“, ob es Preisverleihungen oder Ausstellungen sind: Menschen klumpen sich in Leipzig zusammen, als wäre nicht fünf Wochen zuvor die Buchmesse abgesagt worden. Friedliche Tage sind das, zwei Flugstunden nur entfernt vom Morden, von der Zerstörung europäischer Städte und Kultur. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ – sprühten Friedensbewegte im vorigen Jahrhundert auf Mauern. Jetzt gilt: Stell dir vor, es ist keine Buchmesse und alle gehen hin.
Man kann das zusammenbringen: Der Krieg, den die russische Armee gegen die Ukraine führt, war ein prägendes Thema an diesem Wochenende. Dass dieser Eindruck entstand, ehrt alle, die versucht haben, in Leipzig zu retten, was beinahe verloren gegeben wurde: den Bücherfrühling und das Gespräch über den Zustand der Welt. Denn es ist ja nicht irgendeine Konsumgütermesse, die hier normalerweise stattgefunden hätte, sondern jene, in der geistige Nahrung getestet und verteilt wird.
Am Connewitzer Kreuz im Süden der Stadt zeigt die Programmtafel der Kulturfabrik Werk 2 vier Konzerte an, darüber für den 18. bis 20. März „Buchmesse Pop-up“ und am 22. März ist „Impfen“ angesetzt. Corona ist ja noch da. Am Eingang werden erst 2G+-Nachweise geprüft und dann die Eintrittskarten. In einer langen Halle zockelt das Publikum mit Masken langsam um die Stände vom Argument Verlag bis Zweitausendeins, etwas mehr als 60 Verlage haben an der Doppelreihe von Tischen in der Mitte oder an den Wänden drumherum Platz gefunden. Sie sind so hoch, dass mittelgroße Menschen direkt zugreifen können, auch angenehm in Augennähe.
Fast 5000 Tickets wurden verkauft, mehr ließ der Platz nicht zu. Ein freundlicher Herr ruft alle zwei Stunden auf, den Raum zu leeren – dann ist ein Zeitfenster vorbei und die nächsten Leute dürfen hinein.
Bei Droschl verweist ein großes Foto von Tomer Gardi auf seinen mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Doppelroman „Eine runde Sache“. Verlegerin Annette Knoch wird darauf angesprochen, aber viel mehr noch auf ihre Autorin Oksana Sabuschko aus Kiew. Zwei Romane von ihr liegen in Stapeln dort, dazu der Essay „Der lange Abschied von der Angst“, 2018 erschienen. Sie schrieb damals schon: „Wenn man sich die russische Informationsstrategie aufmerksam anschaut (die lange vor der Platzierung russischer Militärformationen auf unserem Territorium auf Hochtouren lief), lässt sich unschwer erkennen, dass sie schön nach Clausewitz’ Rezept auf Destabilisierung und Demoralisierung anderer Länder ausgerichtet ist.“ Sabuschko ist in Sicherheit, sagt die Verlegerin, sie sei nach einer Lesung in Danzig geblieben.