Kommentariat: Gestern Virologie, heute Militärstrategie
Frankfurter Rundschau
Wer im Netz Meinungen vertritt, wird oft dafür kritisiert - dabei ist Meinen doch gut.
Zugegeben, ich denke auch mehrmals täglich: War es wirklich nötig, dass alle, die gerade noch Fachleute für Virologie waren, jetzt Meinungen über russische Außenpolitik und über Militärstrategie ins Internet schreiben? Schön ist das nicht. Aber noch weniger schön sind die Beiträge, in denen sich jemand über das viele Meinen beschwert: „Ich bin froh, nicht mehr in denjenigen sozialen Netzwerken unterwegs zu sein, wo das Kommentariat seinen postenden Aktivismus pflegt und dabei noch seinen Bekenntnisputz ausstellt.“ Dieses Beispiel stammt aus dem Blog des Medienforschers Fabian Steinhauer, aber der Beitrag vertritt ein ganzes Genre, das Genre der Beschwerden über „das Kommentariat“.
„Kommentariat“ ist ein Begriff, der sich seit zehn Jahren allmählich in dieser Bedeutung verbreitet. Vielleicht war es Sascha Lobo, der ihn etabliert hat. 2011 schrieb er in seiner Spiegel-Online-Kolumne: „Stellt man sich das Internet schichtweise zusammengesetzt vor, dann besteht die oberste Schicht aus den Milliarden von Textschnipseln, die das digitale Kommentariat überall ins Netz hineinvermutet.“ Davor gab es das Wort „Kommentariat“ zwar auch schon, aber es bezeichnete noch nicht diejenigen, die unbezahlt, ungefragt und oft namenlos im Internet kommentieren, sondern bezahlte Autorinnen und Autoren von Meinungstexten in Printmedien: „Das Kommentariat beschreibt eine recht kleine Gruppe von Journalisten, die mit ihren Kommentaren als führende Meinungsmacher in den Massenmedien auftreten und an denen sich andere orientieren“, erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung, und beruft sich dabei auf eine Veröffentlichung von Friedhelm Neidhardt, Barbara Pfetsch und Christiane Eilders aus dem Jahr 2004: „Das ‚Kommentariat‘. Porträt einer Öffentlichkeitselite.“
Ein Zwischenschritt auf dem Weg von der Elite zur Masse war das „Bloggertariat“. Ich denke mir das nicht aus! Im Juni 2009 gab es in London eine unter anderem vom „Reuters Institute for the Study of Journalism“ veranstaltete Podiumsdiskussion mit dem Titel „Commentariat vs Bloggertariat“. Sie ist gut dokumentiert, weil in der Folge mehrere britische Blogger darüber berichteten. Das „Commentariat“ war in dieser Konstellation noch im Printjournalismus zu Hause. Der Begriff „Bloggertariat“ konnte sich nicht durchsetzen und verschwand kurze Zeit später zusammen mit dem Wort „Blogosphäre“. Dadurch ist eine Lücke entstanden, und in diese Lücke ist das Wort „Kommentariat“ hinübergewandert. Der hauptberufliche Meinungsjournalismus steht jetzt namenlos da.
Aber das bezahlte Haben und Äußern von Meinungen wurde ja nicht erst in den Nullerjahren erfunden. Die englischsprachige Wikipedia leitet deshalb von „commentariat“ direkt auf die „chattering classes“ weiter, Schwätzschichten, die in den 1980er Jahren entweder von Auberon Waugh oder Frank Johnson so benannt wurden. Beide waren konservative britische Kolumnisten, und ich glaube, ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass das Schreiben von Kolumnen zu den zentralen Schwätzschichtentätigkeiten gehört. Das ist kein Zufall, sondern ein wesentliches Merkmal des Kommentariats-Vorwurfs: Er wird nur von denen geäußert, die selbst – spätestens mit der Veröffentlichung des Vorwurfs – zu der herummeinenden Gruppe gehören, die sie kritisieren.
Denn was der Begriff eigentlich bezeichnet, sind nicht „Menschen, die Meinungen haben“, auch nicht „Menschen, die ungefragter- und unbezahlterweise Meinungen haben“ und auch nicht „Menschen, die unqualifizierte Meinungen haben“. Es ist ein anderes Wort für Menschen mit Meinungen, die man selbst nicht teilt. Und das könnte man eigentlich auch gleich sagen.