
Kinder im Ukraine-Krieg: Deportiert, zwangsadoptiert, russifiziert
Frankfurter Rundschau
Französische Intellektuelle werfen dem Putin-Regime vor, ukrainische Kinder zu verschleppen
Seit mehreren Monaten äußert Kiew gegenüber Moskau den Vorwurf, ukrainische Kinder, darunter Kriegswaisen, nach Russland zu deportieren. Auch eine Gruppe französischer Wissenschaftler, Autorinnen und Ukrainologen schlägt Alarm. Sie veröffentlichten in der Pariser Zeitung „Le Monde“ eine Zuschrift unter dem Titel: „Ukrainische Kinder zu deportieren und zu ‚russifizieren‘ bedeutet, die Ukraine ihrer Zukunft zu berauben.“
Die Unterzeichnerin Sylvie Rollet, Vorsitzende des Pariser Vereins „Für die Ukraine, für unsere und ihre Freiheit“, schildert gegenüber der Frankfurter Rundschau, warum es sich um eine Deportation handle. Sie betreffe ukrainische Kriegswaisen, aber auch viele Kinder, die in den russischen „Filtrationszentren“ von ihren Eltern getrennt würden; andere wiederum kehrten nicht aus „Ferienkolonien“ in den von Russland besetzten Gebieten zurück. Laut Rollet werden sie zusammen mit anderen isolierten Minderjährigen nach Russland transportiert und dort bisweilen in entlegene Landesregionen wie Nowosibirsk, Murmansk oder an die Grenze zu Nordkorea verteilt. Wohin genau, erfahren die Angehörigen nur, wenn es den Kindern gelingt, sie anzurufen.
Wie viele Kinder bislang verschleppt wurden, ist schwer zu sagen. Das französische Kollektiv geht von 300 000 aus. Diese Zahl umfasst auch jene Mädchen und Jungen, die zusammen mit ihren Eltern weggebracht wurden. Die Rahmenbedingungen dafür hat Kreml-Chef Wladimir Putin geschaffen: Zum einen gelten ukrainische Kinder, die in den russisch besetzten Gebieten nach dem 24. April geboren wurden, als russisch; weigern sich ihre Eltern, den russischen Pass anzunehmen, wird ihnen das Sorgerecht entzogen. Seit Mai können Russ:innen auch ukrainische Kinder adoptieren, die laut Putins Dekret „als Waisen gelten“. Die adoptierten Kinder müssen nicht mehr Russ:innen sein, wie es das russische Recht bisher verlangte.
Oleksandra Romantsowa vom „Zentrum für zivile Freiheit“ – das im Oktober den Friedensnobelpreis erhalten hat – schilderte jüngst in Paris, wie russische Soldaten die Deportation ukrainischer Kinder fördern: „Sie schießen zuerst auf Kindergärten, Schulen und Waisenhäuser; dann geben sie vor, dass sie die Kinder an einen sicheren Ort bringen. Der befindet sich oft mehr als tausend Kilometer entfernt im Osten oder Norden Russlands.“
Der Kreml verheimlicht die Verschleppungen nicht. Putins „Kommissarin für Kinderrechte“, Maria Lwowa-Belowa, erklärte im September im russischen Fernsehen, sie lasse gefährdete Kinder aus Städten wie Mariupol oder Cherson „evakuieren“ und „retten“ (die FR berichtete). Die Mehrfachmutter schilderte auch die Wohltaten der „Umerziehung“. Einen 16-jährigen Jugendlichen aus Mariupol hat die Putin-Vertraute selber adoptiert. Vor einer TV-Kamera erzählte Lwowa-Belowa mit einem Teddybär im Arm, die Kinder aus der zerbombten Stadt hätten zuerst die ukrainische Nationalhymne gesungen, als man sie aus den Kellern geholt habe; mittlerweile habe sich ihre Haltung aber in „Liebe zu Russland“ verwandelt.