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Katerina Poladjan „Zukunftsmusik“: Vielleicht eine feine Wurst, vielleicht das Nichts
Frankfurter Rundschau
Katerina Poladjans Roman „Zukunftsmusik“ führt ins Jahr 1985 in der Sowjetunion
Hochdosiert, aber leichthändig ist Katerina Poladjans Roman „Zukunftsmusik“ ausgerechnet einer Zeit des Umbruchs in der Sowjetunion gewidmet, so dass er auch aktuell brennend interessiert. Jedoch ist das kein Lehrstück, höchstens begreift man, dass der Mensch im Einzelnen zu klein ist, um die Übersicht zu bewahren. Dass er aber dennoch Hoffnung hat und ein Recht darauf.
Matwej zum Beispiel „war ein vierundfünfzigjähriger Mann, der seine Gesundheit durch morgendliche Kniebeugen und den täglichen Verzehr von Haferbrei erhielt. Seinen Geist und seine Seele fühlte er der Poesie verpflichtet. Er nahm das Kästchen mit der Aufschrift ,Liebe‘, steckte die Nase hinein, atmete die Liebe ein und aus.“ Denn Matwej, der seltsame Sammlerangewohnheiten pflegt, ist ein braver, sogar ein gefährlicher Funktionär. Aber er mag Maria und deren Enkeltochter, und als die drei zufällig gemeinsam von Kroschkas Kindergarten nach Hause gehen und Maria sieht, wie sich das Kind am Hals des Mannes festhält, war ihr, „als hätten sie nicht die Kommunalka zum Ziel, sondern ein Stückchen Zukunft“.
Eine Zeit des Umbruchs. Die Menschen wissen es noch nicht, aber mit der Macht einer Schriftstellerin lässt Poladjan es sie spüren. Die Menschen könnten denken, es wäre bloß das mühsam sich nähernde Winterende.
„Zukunftsmusik“ spielt am 11. März 1985. KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko ist am Vortag gestorben, am Abend wird es im Radio verkündet. „Damit war es heraus“, denkt Matwej, „eine Geschichte war zu Ende, eine andere begann.“ In der Tat. Aber dass an eben jenem Tag Michail Gorbatschow zum Parteichef berufen wird, fällt im Roman nicht ins Gewicht, der Name wird nicht genannt, ein Versteckspiel Poladjans, aber auch die Realität. Veränderungen treten ein, bevor man sie bemerkt. Dass Perestroika, der Umbau, den Gorbatschow bald darauf startet, in der Gemeinschaftswohnung bereits am Abend dieses 11. März zu verspüren ist: ein grandioser kleiner Coup der an dieser Stelle durchaus zaubernden Autorin. Ein Mann betritt verdutzt das falsche Zimmer – offenbar, sagt er, seien die Wände umgestellt worden. Das Gerücht geht um, die Wohnung werde aufgelöst. Ein Korridor öffnet sich schließlich ins Freie hinaus. Magischer Realismus für die Sowjetunion und das Personal des Buches, liebenswerte Menschen im Großen und Ganzen.
Hochdosiert: „Zukunftsmusik“ spielt von morgens um halb 7 bis in die Nacht hinein, am Morgen läuft schon Trauermusik im Radio, am Abend will die junge Janka ein Hauskonzert geben und zur (allerdings kaputten) Gitarre selbstgeschriebene Lieder singen. Es kommt anders, aber gesellig wird es sein, die Gesellschaft gedrängt und plastisch wie unter dem Mikroskop.