
Kasachstan-Experte: "Der Schießbefehl ist ein neuer Kurs"
DW
Die Unruhen in Kasachstan sind teils politisch, teils durch Preiserhöhungen motiviert. Und Präsident Tokajew habe sie vermutlich kommen sehen, sagt Christoph Mohr von der Friedrich-Ebert-Stiftung im DW-Gespräch.
Deutsche Welle: Die Ereignisse in Kasachstan überschlagen sich. Vor wenigen Tagen sind die Menschen dort gegen Preiserhöhungen beim Autogas auf die Straße gegangen. Seitdem gibt es im ganzen Land Unruhen. Heute hat der Präsident den Sicherheitskräften den Schießbefehl erteilt. Wie schätzen Sie die Lage ein? Wie ist diese rasante Entwicklung möglich geworden?
Christoph Mohr: Die Lage ist nach wie vor sehr unübersichtlich. Kasachstan wird seit Tagen von beispiellosen Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften erschüttert. Kasachstan hat erst vor wenigen Wochen die 30-jährige Unabhängigkeit gefeiert. Nie zuvor gab es im größten Land Zentralasiens solche Proteste. Ihr Ausmaß, das Tempo und die Eskalation sind beispiellos.
Sie kommen überraschend, aber nicht unerwartet. Die Gründe sind erst einmal sozioökonomische. Das ist für viele der Hauptmotivationsgrund. Allerdings sind die Demonstrierenden keine homogene Gruppe. Es mischen sich zunehmend andere Interessen mit ein. Das sind zum Beispiel Forderungen nach stärkeren Partizipationsmöglichkeiten, politischer Transformation, gar nach Systemwandel. Wir haben gesehen, dass Statuen des ersten Präsidenten Nursultan Nasarbajew gestürzt worden sind. Ein Teil der Menschen sind kriminelle Elemente, die plündern, die Gewalt anwenden. Es gibt niemanden, der eine allgemeine Stimme für diese Gruppe darstellt.
Stehen politische Forderungen also nicht im Vordergrund?
Es hängt davon ab, wen man fragt. Das ist vielleicht auch lokal unterschiedlich. Da mögen sich die urbanen Zentren wie Almaty von anderen Regionen wie Mangghystau unterscheiden (Ölregion im Westen Kasachstans, wo die Proteste begonnen haben, Anm. d. Red.).