Kamila Walijewa: Die aberwitzige Faszination für ein gedoptes Mädchen
RTL
Die wegen Dopingverdachts unter Vorbehalt startende Eiskunstläuferin Kamila Walijewa hält dem Druck stand. Die 15-Jährige geht als Führende in die Entscheidung.
Wenn Kamila Walijewa auf dem Eis steht, dann bricht der Zauber los. In diesen Minuten spielt keine Rolle, was um die 15-Jährige herum gerade passiert. In diesen Minuten spielt der größte Skandal der Olympischen Spiele keine überlaute Melodie. Wenn der russische Superteenie Walijewa auf dem Eis steht, dann sieht alles wunderbar leicht, anmutig, unschuldig aus. Perfekte Pirouetten, fantastische Sprünge und die ganz große Emotionalität. Eine goldene Symbiose.
Aber auch eine verdächtige. Kamila Walijewa wurde positiv auf Doping getestet. Plötzlich steht alles infrage. Plötzlich fokussiert sich das Interesse der sportlichen Weltöffentlichkeit auf diesen so jungen Superteenie. Was für ein Druck. Vorerst hat sie ihm standgehalten. Im Kurzprogramm war sie trotz eines kleinen Wacklers besser als ihren 29 Konkurrentinnen. Aber darum geht es irgendwie nur am Rande. Sollte die Olympiasiegerin nicht Walijewa heißen, wird die neue Triumphatorin lediglich eine kleine Nebenerscheinung in den Historienbüchern der Spiele sein.
Alles dreht sich nur um Walijewa. Und um die Frage, ob sie Täter oder Opfer ist. Opfer gar eines Systems? Dieser Gedanke alarmiert die Sportwelt. Über dem russischen Sport schwebt noch immer der Schatten des erschreckenden Staatsdopings während der Heimspiele 2014. Nichts deute aktuell daraufhin, beschwichtigt ausgerechnet das Internationale Olympische Komitee (IOC), das sich beim Thema Russland und Doping reichlich schwertut, was zulasten eines souveränen und konsequenten Handelns geht. Nun, sagt das IOC, es handele sich um einen Einzelfall. Es bleiben dennoch viele Streitfragen. Antworten darauf könnte auch Folgen für die allem Anschein nach unbelehrbare Sportnation Russland haben. Die zweijährige Sperre bei Großereignissen läuft Mitte Dezember aus. Es stellt sich die Frage, ob das Riesenreich von CAS, WADA oder IOC aufgrund seiner Verfehlungen der Vergangenheit ausreichend sanktioniert wurde.
Der Fall Walijew ist so faszinierend, weil so schwer zu durchschauen. Und weil die Protagonistin eine zerbrechliche Jugendliche ist. Eine, der man nicht zutrauen möchte, dass sie abgezockt genug ist, um die Welt mit ihrem Lächeln und ihrer Leidenschaft zu begeistern und sie hinter dem Rücken eiskalt zu betrügen. Ob es Fluch oder Segen ist, dass sie Peking quasi allein auf dem Eis stehen muss, ohne Fans. Aber auch ohne Pfiffe. Allein mit sich und ihrem Talent. Aber eben auch allein mit der Schuldfrage.
Nur zu gerne möchte man wissen, was dieses Mädchen denkt, was sie spürt, wenn sich dem Tanz um Gold stellt. Nur zu gerne möchte man wissen, was es mit der kuriosen Geschichte auf sich hat, dass sich das Dopingmittel (ein Herzmedikament) im Glas ihres Opas befunden haben, aus dem die 15-Jährige womöglich getrunken habe. Experten wie der deutsche Pharmakologe Fritz Sörgel sehen diese Erklärung der russischen Verteidiger mindestens kritisch, eher unglaubwürdig. Der Deutschen Presseagentur sagte er: "Die Menge für eine positive Dopingprobe kann nicht durch Speichel an einem Glasrand in den Körper gelangen."
Walijewa wird in diesen Strudel der Seltsamkeiten immer tiefer hereingezogen. Umso beachtlicher ist es, dass sie nach dem Kurzprogramm auf Goldkurs liegt. Als 26. von 30 Starterinnen war sie aufs Eis getreten. Von den spärlich belegten Tribünen kam ein wenig Applaus. Eine kleine Aufmunterung. Zum Klavierstück "In Memoriam" des russischen Komponisten Kirill Richter absolvierte die Russin bis auf einen Wackler beim Dreifach-Axel sicher und ausdrucks- und nervenstark ihr Programm. Die schwierige Kombination aus dreifachem Lutz und dreifachem Flip war perfekt. Doch danach brach es aus ihr heraus, sie schluchzte, ein paar Tränen liefen. Walijewa kämpfte verzweifelt darum, den Schein zu wahren, nicht einfach nur hemmungslos zu weinen. Was für ein zerreißender Moment.
Als die Wertung angezeigt wurde, schüttelte sie leicht den Kopf. Mit 82,16 Punkten blieb die Moskauerin unter ihrem persönlichen Saisonbestwert (90,45). Ihr Vorsprung ist nicht groß, Zweite ist die russische Weltmeisterin Anna Schtscherbakowa mit 80,20 Punkten vor der Japanerin Kaori Sakamoto mit 79,84 Punkten. Wie es ihr geht? Unklar. Walijewa redet nicht. Zumindest nicht mehr. Zur Pressekonferenz nach dem Wettkampf erschien sich nicht, obwohl sie zunächst angekündigt war. Ein Sprecher der Organisatoren sagte, es sei empfohlen, zur Pressekonferenz zu kommen, aber keine Verpflichtung. Warum Walijewa nicht gekommen sei, müsse beim Russischen Olympischen Komitee (ROC) nachgefragt werden.
Geredet hatte sie nach dem Urteil des Internationalen Sportgerichtshofs, der die Starterlaubnis im Eilverfahren genehmigt hatte, nachdem der positive Dopingtest bekannt geworden war. "Diese Tage waren sehr schwierig für mich. Ich bin glücklich, aber gleichzeitig emotional müde", sagte sie dem russischen Staatsfernsehen und weinte dabei. "Dies sind Tränen des Glücks, aber wahrscheinlich auch der Trauer", sagte Walijewa. Sie sei froh, Russland weiterhin repräsentieren zu können. Man würde ihr wünschen, dass sie diese Sätze aus freien Stücken und Überzeugung sagen konnte. Man würde ihr auch wünschen, dass ihr zweiter Auftritt bei den Olympischen Spielen nach dem Teamwettbewerb (dort holte sie bereits Gold auf Bewährung) ebenfalls aus freien Stücken geschah - und nicht auf immensen Druck ihres Umfelds.