James Joyce „Ulysses“: Die Erzählung von Jedermann
Frankfurter Rundschau
Vor 100 Jahren erschien der „Ulysses“ von James Joyce in Paris.
Wann ich zum ersten Mal „Ulysses“ las, weiß ich nicht mehr. Irgendwann zwischen meinem 14. und dem 16. Geburtstag wird es wohl gewesen sein. Anfang der sechziger Jahre, also in der erstmals 1927 erschienenen Übersetzung von Georg Goyert. Aber wie ich die ersten Sätze las, weiß ich noch ganz genau.
James Joyce beschreibt, wie Buck Mulligan am obersten Treppenabsatz steht, eine Seifenschale mit gekreuzt übereinander liegendem Spiegel und Rasiermesser in der Hand, die Treppe hinunter schaut und „Introibo ad altare dei“ intoniert. Ich war völlig hingerissen, aber nicht von Joyce, sondern von dem, was meine pubertäre Allmachtsphantasie aus der Szene gemacht hatte. In der sah ich Buck Mulligan vor dem Spiegel stehen und „Introibo ad altare dei“ hineinsingen. Hinter Zahnpasta, Zahnbürste und Becher, hinter Aftershave und Eau de Cologne erblickte er das Bild Gottes: sich selbst. Ich war überwältigt.
Mein Latein reichte zwar – erinnere ich mich - , um daran Anstoß zu nehmen, dass das Herantreten an den Altar Gottes im Futur stand, aber diese philologische Beckmesserei warf der ungeheure Aufschwung meiner Fantasie höhnisch die Treppe hinunter. Letztere war ein Stück Textrealität, das sie für ihre Zwecke umfunktioniert hatte. Ich las diesen ersten Abschnitt, der mich so begeistert hatte, gleich noch einmal. Das war der Moment, als ich zum ersten Mal Joyce – genauer: Goyert – und nicht mich selbst las. Den Schrecken über meinen Fehler habe ich niemals vergessen.
Der Roman „Ulysses“ kam am 2. Februar 1922 heraus. Das Buch war ein Produkt des Ersten Weltkriegs, 1914 hatte Joyce mit der Arbeit daran begonnen, seit 1918 waren einzelne Kapitel in Zeitschriften erschienen. Sie wurden sofort zensiert. Die US-amerikanische Post zum Beispiel verbrannte mehrmals zig Exemplare der aufgrund von Passagen aus dem „Ulysses“ inkriminierten Zeitschriften. Es ging um Flüche und Fäkalien, um Sex und Selbstbefriedigung.
Dabei war kein einziger der Texte exakt so erschienen, wie der Autor ihn geschrieben hatte. Sie waren alle schon bereinigt worden. Selbst Ezra Pound hatte sich nicht gescheut, James Joyce zu entschärfen. Auch die heute vor 100 Jahren erschienene Buchausgabe wich an einigen Stellen von Joyces Manuskript ab. Der „Ulysses“ kam als Buch heraus, weil die Amerikanerin Sylvia Beach (1887-1967), die seit 1916 in Paris lebte und dort seit 1919 die Buchhandlung Shakespeare & Company betrieb, den bereits von vielen Verlagen abgelehnten Text unbedingt veröffentlichen wollte.