Jahrestage 2022: Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit
Frankfurter Rundschau
Welche Gedenktage stehen uns 2022 bevor? Arno Widmann wirft einen Blick auf die Vergangenheiten, mit denen wir nächstes Jahr zu rechnen haben.
Die meisten, die ich kenne, machen sich lustig über Gedenktage. Längst überholte Personen und Themen werden ausgegraben, zurechtgeschminkt und uns als hochaktuell verkauft. Ich aber mag Gedenktage. Sie verändern den Blick auf die Gegenwart, die daraufhin an Gewicht verliert, an Standfestigkeit. Sonst hat sie immer die Oberhand. Ihr kann man sich nicht entziehen.
„Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ ist der Titel eines Films von Alexander Kluge aus dem Jahre 1985. Die Wendung leuchtet vor plötzlicher Evidenz. Das Problem meiner Vorausschau auf die Rückblicke des kommenden Jahres wird sein, dass es ein Rückblick von heute ist, dass ich mir aussuche, was ich lustig, erhellend oder verstörend finden werde. Die Vergangenheit wird nicht mich anspringen, sondern ich springe sie an. Also doch wieder ein Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit.
Als ich in der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren aufwuchs, wurde mir in der Schule beigebracht, dass Minderheiten unterdrückt werden. Das war die Lektion, die die Judenvernichtung meinen Lehrern erteilt hatte. Wir wurden dazu erzogen, die Rechte der Minderheiten zu achten. Dann lernte ich in marxistischen Schulungen, dass das zwar auch vorkommt, dass aber in Wahrheit die breite Mehrheit der Bevölkerung von einer winzigen Minderheit ausgebeutet und unterdrückt wird – oft, ja in der Regel, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Man nennt das, lernte ich, „Kapitalismus“ und „mangelndes Klassenbewusstsein“.